Wer kennt sie nicht, die Geschichte von Wilhelm Tell, der den habsburgischen Landvogt in aller Öffentlichkeit herausforderte und zur Strafe mit einem Pfeil auf einen Apfel auf dem Kopf seines Sohnes zielen musste? Diese nationale Legende hat, wie viele andere Mythen auch, einen wahren Kern (die Habsburger waren tatsächlich in der Schweiz), enthält aber auch eine gehörige Portion Fiktion.
Bei den diesjährigen Volksabstimmungen über die Altersvorsorge fühlte ich mich in Schillers Welt versetzt, denn wie bei Wilhelm Tell wurden bestimmte «Legenden» ständig wiederholt und dadurch verstärkt. Ein Beispiel dafür ist die «Benachteiligung der Frauen bei der Vorsorge», ein Argument, das sowohl zur Rechtfertigung höherer AHV-Renten als auch zur besseren Absicherung von Teilzeitarbeit im BVG angeführt wurde. Es stimmt zwar, dass 26% der Frauen (13% der Männer) im Alter nur eine AHV-Rente beziehen und dass nur 69% der Frauen gegenüber 83% der Männer in den Genuss von Leistungen aus der 2. Säule kommen. Diese Zahlen sind unbestreitbar korrekt, sie sind der wahre Kern des Mythos. Will man die richtigen politischen Schlüsse daraus ziehen, müssen sie jedoch in den richtigen Kontext gestellt werden.
Mit dem Kopf in den Sternen
Wer die Milchstrasse betrachtet, sieht nicht das Sternenlicht von heute, sondern das Licht, das diese Sterne Jahrzehnte zuvor ausgestrahlt haben. In Analogie dazu beschreibt die Analyse der Durchschnittsrenten von Personen, die heute im Ruhestand sind, nicht die heutige Arbeitswelt, sondern jene der Vergangenheit.
Nehmen wir das Beispiel von Esther, die 2024 neunzig Jahre alt ist. Sie wurde vor dem 2. Weltkrieg geboren und heiratete in den 1960er Jahren, als mit schwarzweissen «Reklamen» die Vorzüge von neuen Staubsaugern oder Waschmaschinen angepriesen wurden. Sie erhielt das Stimmrecht kurz vor ihrem 40. Altersjahr und wurde vor der Jahrtausendwende pensioniert. Ihr Berufs- und Familienleben und damit auch die Vorsorgeleistungen, die sie bezieht, widerspiegeln eine andere Zeit als die heutige.
Balearen oder Balkonien?
Eine Analyse der Zahlen ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt des Geschlechts ohne Berücksichtigung der Haushaltszusammensetzung vermittelt ebenfalls ein falsches Bild der finanziellen Lage von Rentnerinnen und Rentnern. So verblasst beim Vergleich der Renten von Alleinstehenden der Unterschied zwischen den Geschlechtern oder kehrt sich sogar um: 21% der alleinstehenden Männer beziehen nur eine AHV-Rente, häufiger als die Frauen (19%). 78% der alleinstehenden Frauen haben eine 2. Säule und 35% ein Säule 3a, häufiger als die Männer mit 73% beziehungsweise 32%.
Bei Ehepaaren sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede erheblich – was nicht überrascht, wenn man Esthers Leben betrachtet. Als sie ihre Kinder grosszog, stand sie nicht auf der Strasse, denn sie und ihr Mann teilten sich das gemeinsame Einkommen. Dasselbe gilt auch nach der Pensionierung. Esther muss ihre Ferien nicht auf Balkonien machen, während sich ihr Gatte einen Aufenthalt im 5-Sterne-Hotel auf den Balearen gönnt.
Die Unterschiede werden kleiner, bleiben aber bestehen
Sollten wir somit die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Vorsorge ignorieren? Natürlich nicht! Heute haben Frauen zwar eine bessere Ausbildung als Esther damals hatte. Aber obwohl Frauen heute mehr Erwerbsarbeit und ihre Partner mehr Familienarbeit leisten als früher, bleibt Teilzeitarbeit ein überwiegend weibliches Phänomen. Auch wenn 89% der Pensionskassen den Koordinationsabzug angepasst haben, um Teilzeitbeschäftigten einen höheren versicherten Lohn zu ermöglichen, werden die Unterschiede weiterhin bestehen bleiben. Mit einer 40%-Stelle verdient man weniger als mit einer 100%-Stelle und kann somit auch weniger Lohnbeiträge für die Vorsorge ansparen, unabhängig davon, wie hoch der Koordinationsabzug ist.
Und was hat Wilhelm Tell mit alldem zu tun?
Die Legende von Wilhelm Tell, dem Symbol der schweizerischen Selbstbestimmung, erinnert uns daran, dass freie Entscheidungen auch bedeuten, dass man deren Konsequenzen tragen muss. Tells Weigerung, Gesslers Hut zu grüssen, hatte erhebliche Auswirkungen auf sein Einkommen und seine Rente und somit auf das wirtschaftliche Wohl seiner Familie. Auch heute muss die Entscheidung, wie sich ein Paar organisiert, Privatsache bleiben. Der Staat muss zwar dafür sorgen, dass diese Entscheidungen nicht durch das System verzerrt werden, und dass die Ehepartner im Todes- oder Scheidungsfall geschützt sind. Aber der Staat darf ein bestimmtes Modell der Aufgabenteilung weder fördern noch benachteiligen. Er darf auch nicht versuchen, diese Entscheidungen zu «kompensieren». Die 2. Säule sollte ein Ersatzeinkommen garantieren, und zwar dort, wo es ein Einkommen gab: auf individueller Ebene und konsolidiert auf Paarebene.
Dieser Beitrag wurde in der «Schweizer Personalvorsorge» am 14. November 2024 veröffentlicht.