In der Grundversicherung ist vieles reguliert: Die Krankenkassen müssen die Einheitsprämien jährlich vom Bundesamt für Gesundheit genehmigen lassen – man stelle sich vor, Coop und Migros müssten dem Bundesamt für Landwirtschaft die Preise für ihre Produkte vorlegen. Der Leistungskatalog in der Grundversicherung ist zudem vorgeschrieben. Das ist, als würde man den Detailhändlern das Sortiment vorgeben. Schliesslich entscheiden die Kantone mit ihren Spitallisten, wer zu Lasten der Grundversicherung abrechnen darf.

Kartellrecht kontraproduktiv?

Müsste man unter diesen Voraussetzungen nicht so ehrlich sein und den Anspruch auf Wettbewerb in diesem wichtigen Bereich der Wirtschaft ganz aufgeben? Oder sollte es im Gegenteil eine stärkere Dosis Kartellrecht im Gesundheitswesen geben? Über diese Fragen haben am wettbewerbspolitischen Workshop von Avenir Suisse rund 40 Expertinnen und Experten aus Jurisprudenz, Ökonomie und der Praxis lebhaft debattiert.

Die Ausgangslage wurde durch Reto Jacobs von der Kanzlei Walder Wyss präsentiert: Das Kartellrecht (Art. 3 Abs. 1 KG) ist dort nicht anwendbar, wo es eine staatliche Markt- und Preisordnung gibt und wo einzelne Unternehmen besondere Rechte geniessen, um öffentliche Aufgaben zu erfüllen. Im Bereich der Grundversicherung könne das Kartellgesetz somit wenig ausrichten, lautete Jacobs Fazit. Weil die Wettbewerbsbehörden dazu neigten, Märkte im Gesundheitswesen eng abzugrenzen, bestehe zudem die Gefahr, dass effizienzsteigernde Spitalfusionen untersagt würden, erläuterte der Jurist.

Für die Qualität eines Eingriffs im Spital ist entscheidend, dass der Operateur eine gewisse Routine hat. Sind die Fallzahlen zu tief, müsste sich ein Regionalspital somit stärker spezialisieren. Dies könnte in einer Kooperation mit anderen Krankenhäusern geschehen. Doch auch solche Kooperationen könnten bei einer formalistischen Auslegung des Kartellrechtes nicht nur untersagt werden, sondern sogar hohe Bussen nach sich ziehen, erklärte Jacobs. Drohende Bussen einerseits und die Unsicherheit der kartellrechtlichen Einordnung anderseits könnten also dazu führen, dass sinnvolle Projekte gar nicht erst entwickelt würden.

Gleichwohl wurde in einer Umfrage unter Ökonomen, die die Konjunkturforschungsstelle KOF und die NZZ durchgeführt hatten, zwei Massnahmen am meisten genannt, um das Gesundheitswesen effizienter zu machen: zum einen die Erlaubnis für Parallelimporte patentgeschützter Medikamente, zum anderen die verstärkte Anwendung des Kartellrechtes.

Statt also den Restwettbewerb vollständig abzuschaffen, sollten aus ökonomischer Warte bestehende Spielräume besser genutzt oder erweitert werden. Trotz starker Regulierung gibt es heute zwischen den Krankenversicherern einigen Wettbewerb. Im Jahr 2023, als die Erhöhung der Prämie besonders stark ausfiel, haben 12,8% der Versicherten ihre Versicherung gewechselt. Weitere 18% haben das Versicherungsmodell oder die Franchise geändert. Der Preiswettbewerb funktioniert hier also bis zu einem gewissen Grad.

Aufspaltung des Leistungskatalogs

Will man mehr Wettbewerb ins System bringen, müssten besonders die Versicherer aktiver werden, sagten mehrere Workshop-Teilnehmer. Sie sollten (noch) stärker als Fürsprecher der Patienten agieren. Ein Hindernis für mehr Wettbewerb wurde dabei im noch immer bestehenden Vertragszwang mit Ärzten und Spitälern geortet. Diese Aussage ist jedoch zu relativieren, da heute drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer in alternativen Modellen versichert sind, in denen die freie Arztwahl eingeschränkt ist.

Echte Managed-Care-Modelle, in denen die Ärzte Budget-Verantwortung tragen, hat ein Viertel der Schweizer gewählt. Die Krankenkassen, so eine Forderung aus der Runde, könnten durchaus mutiger sein, um gerade diese Managed-Care-Modelle zu forcieren und Neues auszuprobieren. Um diese Versicherungsformen noch attraktiver zu machen, sollte der Staat zudem darauf verzichten, die Prämienrabatte zu regulieren.

Mehr Wettbewerb könnte man auch via Zweiteilung des Leistungskatalogs erreichen, schlug Bernhard Rütsche vor. Er ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Luzern. Hierbei geht es nicht um die Ausdünnung der Leistungen. Man könnte den Leistungskatalog vielmehr in eine Liste A mit häufigen, homogenen Operationen und in eine Liste B mit seltenen, individuellen Eingriffen aufspalten.

Bei ersteren ist etwa an die Augenchirurgie oder Knie- und Hüftgelenke zu denken, bei letzteren zum Beispiel an die palliative Pflege. Die Vergütung der Leistungen auf Liste A wäre zwischen Spitälern und Krankenkassen frei verhandelbar, solche der Liste B wären weiterhin reguliert. Das Gute an einem solchen Modell wäre, dass man den Wettbewerb sukzessive ausweiten könnte. Man würde die Liste A zunächst mit wenigen Indikationen starten und so Erfahrungen sammeln.

Kantone haben zu viele Hüte auf

Zwei weitere Hindernisse stehen mehr Wettbewerb entgegen, wie Eliane Kreuzer ausführte. Sie leitet die Einkaufsgemeinschaft HSK (Helsana, Sanitas, KPT) und bündelt damit die Interessen von zwei Millionen Versicherten. Erstens spricht man im Gesundheitswesen zwar viel von Qualität, aber bei der Vergütung in der Grundversicherung dürfe sie keine Rolle spielen, sagte sie. Dies geht auf ein Bundesgerichtsurteil von 2014 zurück. Darin heisst es: «Da die qualitativ hochstehende gesundheitliche Versorgung vorausgesetzt wird, dürfen Unterschiede der Behandlungsqualität keine Preisdifferenzierungen rechtfertigen.»

Wenn somit ein Leistungserbringer zugelassen ist, wird automatisch angenommen, dass er auch hochstehende Qualität liefert. Dieses realitätsferne Urteil passt nicht zu einer Branche, in der die Qualität ein entscheidender Wettbewerbsparameter sein müsste.

Ein zweiter Faktor ist die Rolle der Kantone: Sie setzen bei Streitigkeiten die Tarife im Spitalbereich fest. Gleichzeitig sind sie aber oft Eigentümer der Spitäler. Öffentliche Spitäler haben einen Marktanteil von 80%. Der Kanton ist zudem für die Spitalplanung zuständig und über den Kantonsbeitrag Mitfinanzierer der Leistungen. Wer so viele Hüte gleichzeitig aufhat, ist in Interessenkonflikten gefangen, etwa wenn es etwa um die Schliessung von Krankenhäusern geht. Verzerrt wird auch der Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Spitälern, wenn der Kanton Eigentümer ist.

Der Politik steht der Sinn derzeit jedoch nicht danach, solche Wettbewerbsverzerrungen anzugehen. Stattdessen haben nach der jüngsten Prämienrunde effekthascherische Forderungen wie die Deckelung der Löhne von Krankenkassenchefs sowie ein Werbeverbot für die Grundversicherung Konjunktur. Zudem liebäugelt der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit einer neuerlichen Initiative für eine Einheitskasse.

Eine solche Idee wird es schwer haben, solange Bürgerinnen und Bürger guten Zugang zu Leistungen haben und nicht Monate warten müssen, bevor sie eine Behandlung oder einen Arzttermin erhalten. Doch dieser Trumpf sei in Gefahr, hiess es mehrfach in der Diskussion, in der etwa der Mangel an Kinderärzten und -ärztinnen genannt wurde. Der Zugang zu einem Gesundheitswesen, das noch stärker durch den Staat dominiert würde, wäre jedoch nicht besser. Dies zeigen lange Warteschlangen in staatlichen Systemen im Ausland . Deshalb gilt es den «Restwettbewerb» zu retten – und möglichst zu erweitern.

Zu den Präsentationen der Referenten: Reto Jacobs (Walder Wyss), Bernhard Rütsche (Universität Luzern), Eliane Kreuzer (Einkaufsgemeinschaft HSK)

Link zum wettbewerbspolitischen Workshop 2023 mit dem Thema «Sammelklagen – der Weisheit letzter Schluss?»