Herr Ritter, Herr Salvi, kommen Sie pro Tag auf fünf Portionen Früchte und Gemüse, wie es die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung empfiehlt?
Markus Ritter: Zu Hause ja, da esse ich mehrmals pro Tag einen Apfel oder eine andere Frucht. Am Mittag bereitet meine Frau Gemüse und Salat zu. Wenn ich in Bern arbeite, gelingt es mir nicht. Da trinke ich auch zu viel Kaffee.
Michele Salvi: Ja, diese fünf Portionen nehme ich mir immer vor. Aber wenn ich auf meine jüngsten Essgewohnheiten schaue, bin ich wohl eher bei fünf Portionen Pasta. In gewisser Weise bin ich da wie die Schweizer Agrarpolitik: Viel Ambition, aber in der Umsetzung harzts.
Der Bundesrat erarbeitet derzeit die Grundlagen für die nächste Agrarpolitik ab 2030. Die Ziele für unsere Landwirtschaft sind vielfältig: Versorgungssicherheit, Einkommen der Bauernbetriebe sichern, Ökologie, intakte Landschaft und Biodiversität. Ist das nicht zu viel des Guten?
Ritter: Die Ziele sind in der Bundesverfassung verankert. Dort wird eine multifunktionale Landwirtschaft gefordert. Alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit werden gleichermassen angestrebt: die ökonomischen, die ökologischen und auch die sozialen Ziele, welche ein angemessenes Einkommen für die Bauern einschliessen. Wir haben diesen Auftrag und können nicht einfach Ziele streichen.
Salvi: Politisch ist der Rahmen vorgegeben, und die Vielzahl der Ziele ist gewollt. Aber wir können nicht alle Ziele gleichermassen erreichen. Leider gibt es darüber keine Grundsatzdiskussion.
Wo sehen Sie Zielkonflikte?
Ritter: Die ganze Nachhaltigkeit mit ihren drei Dimensionen ist ein Zielkonflikt. Eine Produktion ohne Rücksicht auf Biodiversität und Ökologie wäre immer die effizienteste, weil man dann mit voller Kraft produzieren könnte. Aber wir tragen Verantwortung für die nächsten Generationen. Das gilt für die gesamte Wirtschaft.
Salvi: Wir erreichen unsere eigenen Ziele schlichtweg nicht. So soll die Selbstversorgung möglichst hoch sein, was ohnehin ein zweifelhaftes Ziel ist. Aber wenn das gesetzt ist, so sind wir jedenfalls mit einem Nettoversorgungsgrad von 46 Prozent weit davon entfernt. Wir möchten die Einkommen sichern, doch die Bauern klagen, dass sie nicht oder nur knapp über die Runden kommen. Umweltziele werden ebenfalls nicht erfüllt, oder sie lassen sich kaum messen. Die Zielkonflikte sind offensichtlich.
Die Bevölkerung hat die Biodiversitätsinitiative mit über 63 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Zeigt dies, dass diese Ziele in der Bevölkerung keine hohe Priorität haben?
Ritter: Ja, das sehe ich so. Dort gibt es einige Fehlentwicklungen. Wir haben 30 Jahre lang fokussiert auf mehr Ökologie und mehr Biodiversität. Den ökonomischen und sozialen Bereichen haben wir deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Der Bund soll gemäss Bundesverfassung dafür sorgen, dass die Produktion in der Landwirtschaft auf den Markt ausgerichtet ist. Inwiefern ist dies erfüllt?
Salvi: Nur sehr bedingt. Viele Betriebe richten sich nicht eigenständig am Markt aus, sondern hängen stark von staatlichen Vorgaben und Subventionen ab. Das bremst Wettbewerbsfähigkeit und Innovation im Agrarsektor.
Ritter: Wir wollen auch Markt. In meinen Anfängen als Landwirt hat der Staat bestimmt, was wir produzieren, in welcher Menge, in welcher Qualität und zu welchem Preis. Das hatte nichts mit Markt zu tun. Seit 30 Jahren haben wir nun das Direktzahlungssystem. Die Vorgaben sind nicht mehr die gleichen. Wir verkaufen also, was im Markt nachgefragt wird.
Könnten Sie das mit einem Beispiel veranschaulichen?
Ritter: Im Moment ist der Bio-Anteil bei rund 12 Prozent. Es gibt aber im Parlament viele Vorstösse, welche vorschreiben möchten, dass wir mehr biologisch produzieren sollen. Da wehre ich mich dagegen. Wir haben zu Hause zwar einen Bio-Betrieb. Und wir wären mit der Landwirtschaft bereit, mit einem Anteil von 20 bis 25 Prozent am Markt aufzutreten, aber die Konsumenten kaufen das zurzeit nicht.
Salvi: Was Sie völlig ausblenden, ist der Grenzschutz, also Zölle und Kontingente. Es ist einfach, von Marktorientierung zu sprechen, wenn der Markt abgeschottet ist. Diese Abschottung kostet die Konsumenten etwa 1000 Franken pro Haushalt und Jahr, indem Lebensmittel dadurch teurer werden.
Ritter: Im Durchschnitt geben wir für Nahrungsmittel 6,7 Prozent des Einkommens aus. Das ist weltweit einer der tiefsten Werte. Die Krankenkassen belasten unser Budget, die Wohnung, die Steuern, aber nicht die Lebensmittel. Die Zölle erfüllen eine sehr wichtige Funktion für die Schweizer Landwirtschaft und bringen dem Bund 620 Millionen Franken pro Jahr in die Bundeskasse.
Salvi: Natürlich erzielt der Staat Einnahmen durch Zölle, doch die Rechnung zahlen die Konsumenten. Und das zusätzlich zu den Milliarden, die sie schon als Steuerzahler leisten müssen. Das ist nicht effizient. Die Schweiz ist immer gut gefahren ohne Abschottung. So haben wir beispielsweise die Zölle auf Industrieprodukte abgeschafft.
Wir subventionieren die Landwirtschaft mit 3,6 Milliarden Franken jährlich. Davon sind 2,8 Milliarden Direktzahlungen. Und trotzdem sind viele Bauern und Bäuerinnen auf Nebenjobs angewiesen.
Ritter: Das ist ein richtiges Debakel. Wir verdienen im Durchschnitt gemäss den Zahlen des Bundesamts für Landwirtschaft 17 Franken pro Stunde. Warum das so ist, möchte ich Ihnen an einem Beispiel zeigen. Mein Bruder war Rechtsanwalt. Als er begonnen hat mit seiner Kanzlei, hat er mir erklärt, er müsse jetzt die Kanzlei einrichten, und das koste 100’000 Franken. Die Landwirtschaft aber ist sehr viel kapitalintensiver. Sie braucht Land, einen Stall, einen Wagenschopf, sie braucht Tiere, Maschinen, diverse Vorräte. Der Kapitaldienst für diese hohen Investitionen schmälert die Einkommen enorm.
Salvi: Viele Bauern arbeiten für vergleichsweise wenig Geld, besonders in den Bergregionen. Und doch: Rund die Hälfte der Einkommen der Bauern ist staatlich gestützt. Dieser Anteil ist in Europa nur in Norwegen höher. Wir erreichen das Ziel Einkommenssicherung nicht, und obendrauf ist das System hochkomplex. Die gesamte Regulierung in Gesetzen und Verordnungen umfasst über 4000 Seiten. Der administrative Aufwand und die damit verbundenen Kosten der Bauern sind enorm. Das zeigt doch, dass das heutige System nicht funktioniert.
Ritter: Wir setzen zusätzlich den Verfassungsauftrag, die dezentrale Besiedlung des Landes, um. Deshalb brauchen wir das Instrument der Direktzahlungen, um das Sömmerungsgebiet und die Bergzonen erhalten zu können. Gut 40 Prozent der Betriebe befinden sich in Bergregionen. Die Instrumente sind daher sehr zielgerichtet und erfolgreich. Sie müssen gestärkt werden mit der Agrarpolitik 2030+, um diese Ziele weiterhin erreichen zu können.
Salvi: Mit mehr Geld lösen wir die inhärenten Zielkonflikte in der Bundesverfassung nicht.
Wie wichtig ist eine hohe Selbstversorgung in einer globalisierten Welt noch?
Salvi: Der Selbstversorgungsgrad hat in den letzten zehn Jahren stetig abgenommen. Das ist auch richtig so. In einer globalisierten Welt kann und soll sich die Schweiz als kaufkraftstarkes Land auf den internationalen Märkten versorgen. Eine vollständige Selbstversorgung ist weder realistisch noch notwendig. Und sie würde enorme Kosten verursachen, ohne dass sie tatsächlich Sicherheit garantieren könnte.
Ritter: Die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen, ist der zentrale Auftrag, wie er in der Bundesverfassung steht.
Salvi: Wir hatten dieses Jahr in der Schweiz wegen der zahlreichen Niederschläge die schlechteste Getreideernte der letzten 25 Jahre. Der Bundesrat hat deshalb die Importkontingente für Brotgetreide deutlich erhöht. Das ist genau der Beweis dafür, dass eine Selbstversorgung illusorisch ist.
Ritter: Richtig. Aber wir sollten nicht unter 50 Prozent gehen. Jedoch wäre ein Selbstversorgungsgrad von 70 Prozent netto, wie es eine Initiative fordert, illusorisch. Denn einen solchen Wert erreichten wir auch während des Zweiten Weltkriegs, mit einer Rationierung der Lebensmittel und vier Millionen Einwohnern, nur knapp. Mit einer solchen Vorgabe müsste der Staat mit völlig unverhältnismässigen Massnahmen in unsere Ernährung eingreifen.
Ist es nicht so, dass der Staat umso mehr Geld einschiessen muss, je höher der Selbstversorgungsgrad ist?
Ritter: Nein. Mit Geld könnten solche Ziele gar nicht erreicht werden. Auf Milch, Eier und Fleisch müsste künftig weitgehend verzichtet werden. Eine pflanzliche Ernährung mit Ribelmais, Hafermus und Gerstenbrei wäre angesagt. Mittelalterliche Kost eben. Und das noch limitiert, damit es für alle reicht.
Salvi: Doch, ohne zusätzliche Subventionen steigt der Selbstversorgungsgrad nicht – es fehlt ja offenbar der Anreiz, mehr zu produzieren. Pflichtlager sind hier deshalb effizienter und sichern die Versorgung in Notlagen ebenso gut. Aktuell kosten sie pro Kopf 13 Franken im Jahr und sichern die Versorgung für drei bis vier Monate. Würden wir sie auf ein Jahr ausbauen, wären es 50 Franken pro Person – immer noch viel günstiger als die heutigen Beiträge zur Versorgungssicherheit,
Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich durch die Agrarpolitik 30+ etwas in der Landwirtschaft zum Besseren wendet?
Salvi: Sie führt zu noch mehr Konflikten. Denn es kommen zu all den Zielen, die wir schon haben, noch mehr Ziele dazu. Und das Gesamtsystem wird in den Begleitgruppen zur Agrarpolitik 2030+ um weitere Akteure wie den Detailhandel, das verarbeitende Gewerbe sowie Konsumentenschützer erweitert. Da muss ich kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass diese Zunahme der Komplexität und von Zielkonflikten keine besseren Lösungen für die Landwirtschaft hervorbringen wird.
Ritter: Doch genau das braucht es. Ein eigentliches Marktpaket, das über die ganze Wertschöpfungskette läuft, bis zu den Konsumentinnen. Wir brauchen dieses Paket, um die Landwirtschaft und die ganze Ernährungswirtschaft in den Märkten zu stärken.
Dieses Doppel-Interview ist am 9. Dezember 2024 im Magazin «Die Volkswirtschaft» erschienen.