Vergangenen November lehnte das Stimmvolk den Autobahnausbau ab. Dass der Zuspruch auch im bürgerlichen Lager nicht allzu hoch ausfiel, könnte damit zu tun haben, dass die sechs ins Auge gefassten Abschnitte1Rheintunnel Basel, zweite Röhre Fäsenstaubtunnel (Schaffhausen), dritte Röhre Rosenbergtunnel (St. Gallen), Schönbühl – Kirchberg/Wankdorf (Bern), Le Vengeron – Coppet – Nyon (Genf) zwar von Stau betroffen, aber nicht die grössten «Stauhotspots» sind. Zu letzteren gehören die Nordumfahrung Zürich, die A1 zwischen Olten und Solothurn, die A14 zwischen Rotkreuz und Luzern, sowie die A2 am Gotthard und im Südtessin (Astra, 2024: S. 27). Das Nein erfolgte, obwohl im Vorfeld der Abstimmung gelegentlich von einer extremen Stauzunahme zu lesen war.

Gemäss dem Bundesamt für Strassen (Astra) soll sich die Zahl der Staustunden auf den schweizerischen Autobahnen in den letzten Jahren massiv erhöht haben. 2023 wurden 48’807 Staustunden gezählt. Das sind 22% mehr als im Vorjahr, 50% mehr als 2021 und sogar mehr als das Doppelte von 2020 (wo allerdings die Covid-Krise zu einem Mobilitätseinbruch gegenüber den Vorjahren geführt hatte). Auch mittelfristig soll die Zunahme extrem sein: Im Jahr 2000 wurden erst 7711 Staustunden gezählt.

Eine genauere Untersuchung der verfügbaren Quellen zeigt, dass diese Darstellung wohl übertrieben ist. Das beginnt schon beim Kleingedruckten, mit dem das Astra seine Staustundenstatistik ergänzt: Ein Teil des Anstiegs sei auf eine bessere Erfassung des Verkehrsgeschehens zurückzuführen. Welcher Teil des Anstiegs die Folge einer tatsächlichen Stauzunahme sind, kann das Bundesamt – auch auf Anfrage – nicht beantworten.

Verschiedene Staukriterien, verschiedene Aussagen

Doch was ist überhaupt eine Staustunde? Der Begriff sagt nicht etwa aus, wie viele Stunden jemand im Stau steckt, sondern er beschreibt die über das gesamte Jahr summierte Dauer, während der ein Stau2Genau genommen: Stau und stockender Verkehr. Wobei folgende Definitionen gelten: Stau: Unter 10 km/h für mind. 1 min, häufiger Stillstand. Stockender Verkehr: Unter 30 km/h für mind. 1 min, gelegentlicher Stillstand (vgl. ASTRA, 2024: S. 48). auf irgendeinem Autobahnabschnitt herrschte. Staut sich der Verkehr vor dem Gotthardtunnel z.B. von 8 bis 19 Uhr, dann sind das elf Staustunden. Welche Wartezeit dabei die Fahrzeuge (bzw. deren Insassen) in Kauf nehmen mussten und wie viele Autos bzw. Personen betroffen waren, ist damit nicht gesagt. Die Erfassung solcher Staustunden erfolgt nach wie vor weitgehend manuell – über die Verkehrsmeldungen von Viasuisse. Flächendeckende Echtzeitdaten existieren nicht.

Doch es gibt auch modernere Methoden zur Erfassung von Staus. An automatischen Verkehrszählstellen können im Nationalstrassennetz der Verkehrsfluss (Fahrzeuge pro Stunde) und die Verkehrsdichte (Fahrzeuge pro Kilometer) erfasst werden. Damit kann der Verkehrszustand in die Kategorien «stabil» und «instabil» unterteilt werden. Hier lässt sich seit 2017 kein klarer Trend erkennen. Vor der Corona-Pandemie wurde genau wie 2023 an ca. 70% der Zählstellen das Ziel «weniger als 120 Stunden in instabilem Zustand» erreicht, dazwischen floss der Verkehr (wegen des Covid-Einbruchs) etwas flüssiger (Astra, 2024: S. 50, 54). Die ausgewerteten Zählstellen decken allerdings nur etwa 30% aller Autobahnabschnitte ab. Wichtige Stau-Hotspots fehlen. Die Statistik ist darum nicht sehr repräsentativ.

Zudem können an einigen dieser Zählstellen und zunehmend mit GPS-Daten aus den Geräten in den Fahrzeugen Geschwindigkeiten erfasst werden. Die Abdeckung des Autobahnnetzes beträgt hier immerhin 2/3. Untersucht wird, wie häufig die Zielgeschwindigkeit3Die Zielgeschwindigkeit ist während der Nebenverkehrszeit als signalisierte Höchstgeschwindigkeit abzüglich 10 km/h und während der Hauptverkehrszeit als signalisierte Höchstgeschwindigkeit abzüglich 20 km/h definiert. in eine der beiden Richtungen unterschritten wird. 2021 bis 2023 wurde das Ziel «Zielgeschwindigkeit an weniger als 480 Stunden pro Jahr unterschritten» auf gut 50% aller Abschnitte erreicht. Ein Rückgang dieser Erfolgsquote innerhalb dieser drei Jahre ist nicht zu beobachten, vor Covid lag sie aber höher (Astra, 2024: S. 51, 54).

Die kürzeren Zeitreihen der beiden Kriterien «Verkehrszustand» und «Geschwindigkeit» stützen die These einer massiven Stauzunahme in den letzten Jahren also erstaunlicherweise nicht. Das drängt den Schluss auf, dass ein Grossteil der Zunahme der gezählten Staustunden mit der verbesserten Erfassung zu tun hat.

Stau auf eine Autobahn in der Nacht. Bremslichter der Autos von Hinten gesehen.

Punkto Stausituation herrscht in der Schweiz Blindflug – denn je genauer man die Daten analysiert, desto mehr Ungereimtheiten tauchen auf. (Adobe Stock)

Bisherige Untersuchungen zu Zeitverlusten

Die drei untersuchten Staumasse sagen aber alle nichts darüber aus, wie viele Autos überhaupt wie lange in diesen Staus stecken und wie viel Zeit den Insassen dabei «verloren» geht. Auch dazu wurde ein Wert medial zitiert: 73 Millionen Stunden Zeitverlust soll der Stau auf den Schweizer Strassen verursachen (Infras & EBP, 2022: S. 118). Eine Einordnung dieser Zahl blieb weitgehend aus. Das kann nicht verwundern, denn: Es ist kompliziert.

Zuhanden des Bundesamts für Raumentwicklung (Are) wurden seit Ende 1990er-Jahre mehrere Analysen durchgeführt, in denen mittels Modellrechnungen die durch Staus und verlangsamten Verkehr erlittenen Zeitverluste berechnet und monetarisiert (also in Geldwerten ausgedrückt) wurden.4Die Statistik der Verlustzeiten wurden erstmals von Infras (1998) berechnet, und anschliessend von Keller et al. (2007), Keller & Wüthrich (2012 und 2016), sowie Keller (2019) mit mehrfachen methodischen Anpassungen weitergeführt. Die letzte datiert von 2022 (Infras & EBP, 2022). Sie setzt in einem ersten Teil (Kapitel 3.1) eine in früheren Studien erarbeitete Zeitreihe bis 2019 fort. Berücksichtigt ist das gesamte Strassennetz, also auch die Kantons- und Gemeindestrassen. Die Studie ist schwierig nachzuvollziehen und die Ergebnisse werfen einige Fragen auf.

Box: Methodik der Erfassung von Zeitverlusten

2016 (mit Daten für 2014) wurde die Methodik zur Ermittlung von Zeitverlusten (Fahrzeugstaustunden) zum letzten Mal verfeinert. Sie basiert auf komplexen Modellrechnungen und stützt sich auf die Staustundenstatistik, auf automatische Verkehrszählungen des Astra und auf GPS-Daten. Als «staurelevant» in die Rechnung fliessen nur Fahrten ein, bei denen die Geschwindigkeit unter 65% der Referenzgeschwindigkeit (freie Fahrt) lag.

Verhältnismässig einfach ist dagegen die Monetarisierung der Fahrzeugstaustunden: Mithilfe von Kostensätzen5Definiert durch die Normierungsorganisation im Strassen- und Verkehrswesen der Schweiz, VSS, die sich an der Arbeitsproduktivität orientieren, werden die erlittenen Verlustzeiten in Franken umgerechnet. Diese Kostensätze erhöhen sich geringfügig von Jahr zu Jahr, sofern die Produktivität steigt.

Für 2010 wurden auf dem Nationalstrassennetz 16 Mio. Fahrzeug-Staustunden ermittelt und auf den übrigen Strassen 11,5 Mio. Stunden (Infras & EBP, 2022: S. 70). Die Fahrzeuge auf den Schweizer Strassen verloren demnach 27,5 Mio. Stunden durch Staus. Daraus resultierten Verzögerungskosten von 1,14 Mrd. Franken. Diese stiegen bis 2019 auf 1,67 Mrd. Franken. Dieser neue Wert basiert allerdings auf zwei fragwürdigen Annahmen:

  • Zum einen wurde aufgrund fehlender Daten davon ausgegangen, dass auf den Kantons- und Gemeindestrassen keinerlei Veränderung der Fahrzeug-Staustunden stattgefunden hat. Es wird durchgehend mit den erwähnten 11,5 Mio. Stunden gerechnet. Das ist gerade angesichts der zunehmenden Verkehrsprobleme in den Städten sehr unplausibel.
  • Zum anderen basieren auch die Zahlen für die Autobahnen – Anstieg auf 24,5 Mio. Stunden in 2019 – nur auf einer Art Extrapolation: Seit 2014 wurden keine GPS-Daten ausgewertet, um effektive Verzögerungen (Fahrzeug-Staustunden) zu berechnen, sondern es wurde angenommen, dass sich diese proportional zur Anzahl Staustunden entwickelten. Dass diese Annahme nicht besonders robust ist, belegen die Erläuterungen im vorherigen Abschnitt: Je nach Staukriterium (Staustunden, Verkehrszustand, Geschwindigkeiten) resultieren ganz unterschiedliche Angaben bezüglich Entwicklung der Stauhäufigkeit.

Neue Methode mit höheren Zahlen und Widersprüchen

Im zweiten Teil (Kapitel 3.2) der Analyse von Infras & EBP (2022) wird für das Jahr 2019 eine neue Schätzung mit geänderter Methodik durchgeführt: Mit einer erneuten Sammlung an GPS-Daten wurde ein neuer Wert für die Fahrzeugstaustunden ermittelt. Neu werden die Verluste aus Sicht der Verkehrsteilnehmenden statt aus Sicht des Verkehrssystems behandelt: Während für das Verkehrssystem geringere Geschwindigkeiten «optimal» sein können, weil sie die Verkehrskapazität erhöhen, ist für den einzelnen Verkehrsteilnehmer eine verringerte Geschwindigkeit immer mit Zeitverlust verbunden. Es wurden deshalb hier alle Abweichungen von der «Free-Flow-Geschwindigkeit» (Durchschnittsgeschwindigkeiten in der Nacht von 0 bis 5 Uhr) als Verzögerungen berücksichtigt (statt nur noch Tempi, die 65% der Referenzgeschwindigkeit unterschritten). Daraus resultierte die eingangs erwähnten 73 Mio. Fahrzeug-Staustunden – auf allen Strassentypen –, was wiederum mit Zeitkosten von 3,1 Mrd. Franken verbunden ist. Das ist beinahe der doppelte Wert der 1,67 Mrd. Franken aus Kapitel 3.1. Der grosse Unterschied überrascht angesichts der anderen Perspektive (Verkehrsteilnehmer statt Verkehrssystem) nicht, trotzdem wirft auch dieser Wert bei genauerer Betrachtung Fragen auf:

  • Die Zahl der Fahrzeug-Staustunden soll gemäss der vom ARE selbst durchgeführten Aktualisierung von 2019 bis 2021 um 13 Mio. auf 60 Mio. gesunken sein. Das entspricht am ehesten der Entwicklung des Kriteriums «Verkehrszustand», während es nicht gut mit den Entwicklungen der «Staustunden» und «Geschwindigkeiten» übereinstimmt.
  • Von den genannten 73 Mio. Fahrzeug-Staustunden sollen nur 17%, also 13,6 Mio., auf die Autobahnen entfallen. Das scheint per se noch plausibel. Schliesslich verlieren wir gefühlt gegenüber «freier Fahrt» mehr Zeit in den Städten als auf Autobahnen. Allerdings bedeutet das Verhältnis von 17% (Autobahnen) zu 83% (restliche Strassen) eine komplette Umkehr gegenüber dem in Kapitel 3.1 resultierenden Verhältnis von 68% zu 32%. Dass der Zeitverlustanteil im urbanen Gebiet steigt, wenn man jegliche Verlangsamungen gegenüber dem «Free Flow» statt nur Verlangsamungen unter 65% der Referenzgeschwindigkeit berücksichtigt, ist plausibel. Dass aber die 13,6 Mio. Fahrzeug-Staustunden auf der Autobahn für 2019 in Kapitel 3.2 auch absolut betrachtet weit unter den 24,5 Mio. Fahrzeugstaustunden von Kapitel 3.1 zu liegen kommen, ist nicht plausibel. Logischerweise müsste dieser Wert in Kapitel 3.2 auch auf den Autobahnen deutlich höher als in 3.1 liegen. Auf Rückfrage konnten weder Infras, noch das Astra noch das Are diese Diskrepanz erklären. Das Are machte immerhin darauf aufmerksam, dass die Definition von «Autobahn / Nationalstrasse» in den Kapiteln 3.2 und 3.1 nicht genau deckungsgleich sei. Die Differenzen sind jedoch marginal und können den Unterschied nicht erklären.6Autobahn / Nationalstrasse gemäss 3.1 sind alle vignettenpflichtigen Autobahnen und Autostrassen. Autobahn / Nationalstrasse gemäss 3.2 sind die Strassen der Funktionsklasse 1 des internationalen HERE-Datensatzes. Vignettenpflichtig, aber nicht HERE1 sind: A20 (Transjurane), A15 (Oberlandautobahn), direkte Einfallsstrassen vom Autobahnring in die Stadt Zürich, kurze Stücke bei Aargau, Basel, Lausanne, Locarno, Luzern und Rorschach. Nicht vignettenpflichtig, aber HERE1 sind: Martigny – Gr. St. Bernhard, Brig – Simplon. Aufgrund dieser Unterschiede kann in 3.1 ein etwas höherer Stauanteil auf die «Autobahnen» entfallen als in 3.2, aber niemals die eklatante Differenz erklären.

Grundsätzliche Zweifel an der ermittelten Grössenordnung

Und noch etwas erstaunt: Die Zahl von 73 Mio. Stunden kumulierter Zeitverluste mag nach viel tönen. Bezogen auf die Einwohnerzahl (8,6 Mio. im Jahr 2019) sind das aber nur 1,4 Minuten pro Person und Tag. Die Schweizer sassen 2019 durchschnittlich 31 Minuten pro Tag im Auto. Bei dieser Fahrzeit ist ein Zeitverlust von 1,4 Minuten (2021 sogar nur noch 1,13 Minuten) eigentlich nicht nennenswert, gerade wenn man bedenkt, dass dieser gegenüber einer Free-Flow-Geschwindigkeit, also einem Fortkommen ohne jegliche Verlangsamungen, berechnet wird. Auch wenn angenommen werden muss, dass Pendler von diesen Stauzahlen überproportional betroffen sind, so erwecken diese Zahlen doch den Eindruck, dass Stau und stockender Verkehr hierzulande höchstens ein punktuelles Phänomen sein müsste. Das steht in einem offensichtlichen Widerspruch zum Erfahrungsschatz von regelmässigen Autolenkenden. Das nährt grundsätzliche Zweifel an der Plausibilität dieser Zahl.

Was all diese Staustatistiken zudem sogar dann, wenn sie verlässliche Angaben liefern würden, nicht berücksichtigen können, ist das Phänomen Ausweichverkehr. In der heutigen Zeit, wo eine automatisierte, verkehrsoptimierte Routenwahl mithilfe von Navigationsgeräten nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist, führen Kapazitätsengpässe automatisch zu Umfahrungsverkehr. Auch diese Umwege bedeuten einen Zeitverlust für die Insassen, sogar wenn die Messstellen oder die GPS-Geräte keine signifikante Verlangsamung gegenüber den jeweiligen Zielgeschwindigkeiten ausweisen.

Insgesamt führt diese widersprüchliche und teilweise unplausible Datenlage zu folgender Feststellung: Punkto Stausituation herrscht in der Schweiz Blindflug. Präzisere, zuverlässigere und glaubwürdigere Messwerte könnten dabei helfen, einen Kapazitätsausbau optimal zu planen und zu gestalten.

Literaturverzeichnis

  • Bundesamt für Strassen, Astra (2024): Verkehrsentwicklung und Verkehrsfluss 2023. Bern.
  • Infras (1998): Staukosten im Strassenverkehr. Im Auftrag des Bundesamts für Strassen (Astra), Bern.
  • Infras und EBP (2022): Kosten der Überlastung der Transportinfrastruktur (Küti). Im Auftrag des Bundesamts für Raumentwicklung (Are), Bern.
  • Keller, M. et al. (2007): Staukosten des Strassenverkehrs in der Schweiz – Aktualisierung 2000/2005. Im Auftrag des Bundesamts für Raumentwicklung (Are), Bern.
  • Keller, M. und P. Wüthrich (2012): Neuberechnung der Stauzeitkosten. Im Auftrag des Bundesamts für Raumentwicklung (Are), Bern.
  • Keller, M. und P. Wüthrich (2016): Neuberechnung der Staukosten Schweiz 2010–2014. Im Auftrag des Bundesamts für Raumentwicklung (Are), Bern.
  • Keller, M. (2019): Staukosten Schweiz 2015 Schlussbericht. Im Auftrag des Bundesamts für Raumentwicklung (Are), Bern.