Vor lauter Bäumen sieht man oft den Wald nicht mehr. Diesen März durfte sich das Schweizer Stimmvolk mit den Einzelheiten der AHV, im September mit denjenigen der beruflichen Vorsorge auseinandersetzen. Aber wissen wir wirklich, wie gut unser Modell der Altersvorsorge sich als Ganzes bewährt hat?
Trotz Pandemie, hoher Inflation und geopolitischen Verwerfungen hat sich das Dreisäulensystem bewährt. Die Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) sind seit 1980 deutlich stärker gestiegen als die Preise (+123 gegenüber +91%). Das Rentenniveau in der beruflichen Vorsorge (BVG) ist, unter Berücksichtigung der Kapitalbezüge, seit 2015 stabil geblieben, selbst wenn wir seitdem ein halbes Jahr länger leben und ebenso länger Rente erhalten. Und die dritte Säule wird immer bedeutender: 2022 bezogen bereits 53% der Neurentner Leistungen aus der Säule 3a.
Für die Mehrheit der Rentner stellt das Alter an sich kein akutes Armutsrisiko mehr dar. Sie kommen finanziell gut über die Runden und geben sich zufriedener mit ihrer finanziellen Situation als die Erwerbstätigen – das ist die gute Nachricht. Doch für eine Minderheit der Senioren bleib Armut im Alter eine Realität: Betrachtet man nur die Neurentner, zeigt sich, dass 8% von ihnen unmittelbar nach der Pensionierung auf Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen sind.
Allerdings waren drei Viertel dieser EL-Bezüger bereits vor ihrer Pensionierung auf Leistungen der Invalidenversicherung oder von der Sozialhilfe abhängig. «Nur» 2% der Neurentner benötigten erst mit dem Verlust ihres Erwerbseinkommens Unterstützung durch die EL.
Altersarmut früh bekämpfen
Die obige Analyse hat wichtige Konsequenzen: Wer Altersarmut bekämpfen will, muss bereits vor der Pensionierung ansetzen und nicht erst danach. Das klingt zwar trivial, doch der politische Alltag zeigt ein anderes Bild. Eine dreizehnte AHV-Rente hier, eine Überbrückungsrente dort: Die Politik setzt meist auf nachträgliche Korrekturen, die für die Betroffenen zu spät kommen, statt das Problem an der Wurzel zu packen.
Bekämpfen lässt sich die Altersarmut am besten vor dem Eintritt ins Rentenalter durch eine erhöhte Arbeitsmarktpartizipation. Wer mehr arbeitet, hat mehr Lohn und folglich mehr Vorsorgegelder – und letztlich mehr Rente.
Damit diese Menschen arbeiten können, braucht es aber Jobs. Das erfordert Rahmenbedingungen, die eine florierende Wirtschaft begünstigen und einen liberalen Arbeitsmarkt sicherstellen, der die Beschäftigung erleichtert und Anstellungen unterstützt. Gute Wirtschaftspolitik ist somit auch gute Vorsorgepolitik.
Im 19. Jahrhundert gab es unter den Bauern im Kanton Bern die Tradition, neben ihrem Haupthof ein kleines Haus zu bauen, das «Stöckli», damit sich die ältere Generation zur Ruhe setzen und den Hof an den jüngeren Sohn und seine Familie übergeben konnte. Der «Übergang in den Ruhestand» wurde somit auch durch den Umzug in ein «Altersheim» in nächster Nähe markiert.
Für die Berner Bauernschaft bedeutete Vorsorge für das Alter mithin weit mehr als die Schaffung eines Ersatzeinkommens im Ruhestand. Der Eintritt ins «Stöckli» der Eltern war mit Verpflichtungen der jüngeren Generation in Naturalien verbunden. Nicht nur der finanzielle Teil war geregelt, der heute hauptsächlich durch die drei Säulen der Vorsorge gewährleistet wird, sondern auch die Betreuung gebrechlicher und pflegebedürftiger Grosseltern war gesichert.
Probleme verschärfen sich
Heute ist bei vielen Bürgern das Verständnis der Altersvorsorge ein anderes. Sie steht für die finanzielle Absicherung eines aktiven dritten Lebensalters – einer Zeit der Ruhe und Gelassenheit, die aber auch Raum für persönliche Entfaltung lässt, sei es durch Reisen oder die Betreuung der Enkelkinder. Der Ruhestand umfasst jedoch mehr: Im vierten Lebensalter nehmen körperliche und geistige Kräfte allmählich ab, was neue Herausforderungen mit sich bringt.
Eine umfassende Vorsorge muss deshalb auch die finanzielle Sicherung des vulnerablen Lebensalters gewährleisten. Doch die steigenden Kosten für die Pflege werden heute primär von der Krankenkasse und zunehmend auch von der Allgemeinheit getragen. Dieses Problem wird sich mit der demografischen Entwicklung verschärfen und die finanzielle Belastung künftiger Generationen erhöhen. Hier braucht es eine neue Lösung, die verstärkt auf private Vorsorge setzt.
Gesundheit im hohen Alter finanzieren
Für die Finanzierung der Gesundheit im hohen Alter könnte das bewährte Dreisäulensystem als Modell dienen. Die Akutversorgung – etwa Behandlungen in einer Arztpraxis oder in einem Spital – sollte weiterhin durch die Krankenversicherung im Umlageverfahren, also nach dem AHV-Prinzip, abgedeckt werden. Im Kontext einer umfassenden Altersvorsorge wäre das die vierte Säule.
Die Langzeitpflege hingegen könnte durch eine neue, obligatorische fünfte Säule finanziert werden. Sie wäre ähnlich wie die berufliche Vorsorge und die Säule 3a im Kapitaldeckungsverfahren organisiert. Demnach würde man ein privates, vererbbares Pflegekapital ansparen. Mit diesem Modell würde das Schweizer Vorsorgesystem zu einem Fünfsäulenmodell erweitert werden.
Diese Beispiele verdeutlichen: Die Debatte rund um die AHV, die berufliche Vorsorge und die Säule 3a ist wichtig. Doch wenn Altersvorsorge umfassender gedacht wird – als mehr als nur die Finanzierung des dritten Lebensalters –, zeigt sich zusätzlicher Handlungsbedarf ausserhalb des klassischen Dreisäulensystems. Dank einer besseren Eingliederung im Arbeitsmarkt kann man die Altersarmut an der Wurzel packen. Die Finanzierung der Langzeitpflege muss zudem stärker in den Fokus der Politik rücken, um nicht nur für das dritte, sondern auch für das vierte Alter generationengerecht vorzusorgen.
Dieser Beitrag ist in der «Finanz und Wirtschaft» vom 04. November 2024 erschienen.