Im März dieses Jahres befasste sich die Bevölkerung mit den Details zur AHV, im September mit denjenigen der beruflichen Vorsorge. Doch wie so oft sieht man zuweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr: Wie steht es eigentlich um unser gesamtes Vorsorgesystem? Kann es Altersarmut wirksam verhindern?

Betrachtet man die Zahl der Rentnerinnen und Rentner mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze, so ist diese von 2007 bis 2022 um 71’000 Personen gestiegen. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille: Im gleichen Zeitraum ist die Zahl derjenigen Pensionäre mit einem Einkommen oberhalb der Armutsgrenze sechsmal so stark gewachsen. Der Anteil der Rentnerinnen und Rentner mit Einkommen über der Armutsgrenze stieg deshalb leicht auf 84% im Jahr 2022. Berücksichtigt man auch noch die Vermögenswerte, sind Senioren finanziell sogar bessergestellt als Erwerbstätige.

Blick in die Sterne

Ist das ein Grund zur Freude? Ja, aber eigentlich läuft es noch besser. Denn diese Zahlen sind Durchschnittswerte, die alle Altersgruppen von Rentnerinnen und Rentnern umfassen. Zwischen den einzelnen Generationen gibt es jedoch erhebliche Unterschiede. Zum Verständnis sei ein Vergleich herangezogen: Wer die Milchstrasse betrachtet, sieht nicht das Sternenlicht von heute, sondern das Licht, das diese Sterne Jahrzehnte zuvor ausgestrahlt haben. In Analogie dazu beschreibt die Analyse der Durchschnittsrenten von Personen, die heute im Ruhestand sind, nicht die heutige Arbeitswelt, sondern jene der Vergangenheit.

Nehmen wir als Beispiel die neunzigjährige Esther: Sie wurde vor dem Zweiten Weltkrieg geboren, heiratete in den 1960er-Jahren, als Schwarz-Weiss-Werbung den Absatz neuer Waschmaschinen ankurbelte. Das Stimmrecht erhielt sie kurz vor ihrem 40. Geburtstag, und in den Ruhestand ging sie noch vor der Jahrtausendwende. Ihr beruflicher und familiärer Werdegang – und damit auch ihre Vorsorgeleistungen – spiegelt eine andere Zeit wider. Politikempfehlungen, die auf Durchschnittswerten aller Rentner basieren, laufen Gefahr, die gegenwärtigen Entwicklungen in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt zu übersehen.

Der Übergang in den Ruhestand birgt kaum Risiken

In einer Avenir-Suisse-Studie haben wir die finanzielle Lage von Neurentnerinnen und Neurentnern untersucht. Die Analyse von Neurentnern zeigt am besten, wie das Drei-Säulen-System heute funktioniert. Im Jahr 2023 kamen 92% der Neurentner nach der Pensionierung finanziell gut über die Runde, während 8% auf Ergänzungsleistungen angewiesen waren. Von diesen zählten drei Viertel bereits vor der Pensionierung auf Sozialhilfe oder Leistungen der Invalidenversicherung. Nur etwa 2% der Neurentnerinnen und Neurentner wurden erst nach der Pensionierung bedürftig. Das Armutsrisiko in der Schweiz hängt also nicht primär vom Alter ab, sondern von anderen Faktoren wie Bildungsstand, Nationalität oder Behinderung, die bereits vor der Pensionierung bestanden.

Die finanzielle Realität von Männern und Frauen, die gerade in den Ruhestand getreten sind, spiegelt die aktuelle Leistungsfähigkeit des Drei-Säulen-Systems wider.(Adobe Stock)

Die finanzielle Realität von Männern und Frauen, die gerade in den Ruhestand getreten sind, spiegelt die aktuelle Leistungsfähigkeit des Drei-Säulen-Systems wider. (Adobe Stock)

Vorbeugen ist besser als heilen

Diese Erkenntnis ist zentral: Wenn drei Viertel derjenigen, die Ergänzungsleistungen beziehen, bereits vor der Pensionierung auf staatliche Unterstützung angewiesen waren, muss vor und nicht erst nach der Pensionierung gehandelt werden. Doch in der politischen Debatte wird dieser Ansatz oft übersehen. Statt die Wurzeln des Problems anzugehen, setzen Massnahmen häufig zu spät an – etwa mit einer 13. AHV-Rente oder Überbrückungsrenten.

Präventive Massnahmen sind jedoch das wirksamste Mittel gegen Altersarmut: Dazu gehört, Menschen frühzeitig zu unterstützen, damit sie sich stärker am Arbeitsmarkt beteiligen können. Wer länger arbeitet, verdient mehr, zahlt höhere Beiträge in die Altersvorsorge ein und hat später Anspruch auf eine bessere Rente.

Damit Menschen arbeiten können, braucht es jedoch Arbeitsplätze. Das erfordert Rahmenbedingungen, die eine florierende Wirtschaft und einen flexiblen Arbeitsmarkt fördern – auch für Menschen mit weniger gefragten Berufsprofilen. Es mag banal klingen, ist aber entscheidend: Eine gute Wirtschaftspolitik ist die beste Sozialpolitik.

Erschienen am 20. November 2024 in der Tageszeitung «Le Temps».