«Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr. Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.»
So lässt Friedrich Schiller in seinem Freiheitsdrama «Wilhelm Tell» die Vertreter der Urkantone schwören. Sowohl Freiheitsdrang als auch Kampfesmut blitzen darin auf. 44 Jahre nach der Niederschrift von Schillers Tell entsteht eine völlig neue – die moderne Schweiz. Dies jedoch in einem blutigen Bruderzwist, dem Sonderbundskrieg von 1847. Zwei unterschiedliche Freiheitskonzepte prallten aufeinander: Das individuelle Freiheitsverständnis der Liberalen, und die ältere, «urwüchsige» Freiheit von souveräner Selbstbestimmung. Genau diese Freiheitsvorstellungen lassen sich durch den alljährlichen Avenir-Suisse-Freiheitsindex analysieren. Wo finden sich Spuren und Pfadabhängigkeiten des Sonderbundskrieges? Nach welchen Vorstellungen von Freiheit gestaltet die Innerschweiz ihr Gemeinwesen?
Bruderzwist, nicht Brudermord
Der Sonderbundskrieg gilt als einigermassen «humaner» Krieg. Der US-Historiker Joachim Remak betitelt sein Buch darüber gar als «A very civil war». Besonders verdeutlicht wird diese Tatsache durch den Ausspruch des Generals der eidgenössischen Truppen, dem Genfer Guillaume Henri Dufour: «Nous devons sortir non seulement victorieux, mais aussi sans reproche».
Die Ressentiments der Sonderbundkantone gingen trotzdem tief – nicht von ungefähr ist es damals zu Kriegshandlungen gekommen. Der Katalog der liberal-radikalen Spitzen gegen die Katholisch-Konservativen umfasste blutige Freischarenzüge in die katholischen Lande, vertragswidrige Enteignung der Klöster oder auch das Jesuitenverbot. Nach der Niederlage mussten die unterlegenen Stände des Verteidigungsbündnisses Reparationszahlungen in Millionenhöhe an die liberal-radikalen Kantone leisten.
Als Folge des Sonderbundskrieges wurde der Tagsatzungsvertrag von der Bundesverfassung abgelöst. Sie trat 1848 in Kraft und begründete den modernen Bundesstaat. Eine Auffälligkeit der Schweizer Geschichte stellt in diesem Zusammenhang dar, dass die drei Gründungskantone der alten Eidgenossenschaft der modernen Schweizer Verfassung noch nie zugestimmt haben – weder bei deren Einführung noch anlässlich der Teilrevisionen in den Jahren 1874 und 1999. Gleiches gilt für ein weiteres ehemaliges Mitglied des Sonderbundes, den Kanton Wallis und den damaligen Neutralen, den Kanton Appenzell-Innerrhoden.
Die Zustimmung zur neuen Bundesverfassung in Luzern wurde nur durch einen billigen Kniff erreicht: Sämtliche Nichtstimmenden wurden dem «Ja»-Lager zugeteilt – ein aus heutiger Sicht demokratischer Irrsinn. Die Liberal-Radikalen verzichteten zudem auf die Einstimmigkeit der Stände, was insofern rechtlich fragwürdig ist, als der Bundesvertrag von 1815 keine Revisionsklausel enthielt. Und auch Frauen durften bei den ersten beiden Abstimmungen noch nicht mitentscheiden.
Bürgerkrieg ohne Bürger
An sich steht der Sonderbundskrieg von 1847 in einer langen Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Eidgenossen (Alter Zürichkrieg, Kappeler-Kriege, Villmerger Kriege, Stecklikrieg). Als Bürgerkriege können diese Auseinandersetzungen jedoch nur bedingt gelten, weil sich jeweils nicht Bürger desselben Staats bekämpften. Die wichtigsten Attribute eines modernen Staates gingen der alten Eidgenossenschaft noch ab. Es bestanden weder zentrale Regierung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit noch ein einheitliches Staatsvolk mit gemeinsamem Bürgerrecht. Staatliche Hoheitszeichen wie ein einheitliches Siegel oder ein Wappen sucht man ebenfalls vergeblich. Diese Kompetenzen standen allein den Kantonen bzw. den dreizehn Orten zu. Der Weg vom losen alteidgenössischen Saatenverbund zum suprakantonalen schweizerischen Bundesstaat war geprägt von Brüchen. Denn die moderne Schweiz entstand gerade im Bruch mit der alten Eidgenossenschaft. Jene musste Untergehen – 1789 durch den «Franzoseneinfall» – und zerbrechen – 1848 durch den Sonderbundskrieg –, um dann in der modernen Confoederatio Helvetica neu zu entstehen.
Leben und leben lassen
Der Aufstand des Sonderbundes führte rückblickend zur Herausbildung eines typischen Merkmals der modernen Schweiz: den ausgeprägten Föderalismus. Mit einer Zentralisierung nach französischem Vorbild – wie ihn die radikal-liberalen Sieger forderten, aber im Revisionsprozess nicht durchsetzen konnten – hatte die Schweiz denn auch schlechte Erfahrung gemacht. Der «Franzoseneinfall» von 1789, der den Auftakt zur Helvetische Republik bildete, fegte den für die alte Eidgenossenschaft typischen Föderalismus sowie die Kleinstaatlichkeit hinweg. Schon damals führte das Innerschweizer Aufbegehren gegen die Zentralstaatlichkeit zur Mediationsakte von 1803 und einer Abkehr von rigidem Zentralismus.
Die erfolgreiche Bewahrung der Kleinstaatlichkeit erlaubte eine weitgehende Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Zentralisiert wurden damals nur jene Bereiche, die heutzutage selbstverständlich dem Bund zufallen: Münzwesen; Armee; Zölle; Niederlassungsfreiheit; gemeinsame Aussenpolitik; Garantie einer republikanisch-demokratischen Kantonsverfassung und eines Bundesgerichts. Die übrigen Kompetenzen verblieben bei den Kantonen. Im damaligen Verständnis fiel das katholisch-konservative Augenmerk insbesondere auf das Schul- und Kirchenwesen.
Gelebter Föderalismus
Genau dieser Facettenreichtum spiegelt sich bis heute in den jeweiligen Kantonsverfassungen und -gesetzen. Denn von den kantonalen Kompetenzen wird auch aktuell noch rege Gebrauch gemacht. Der Avenir-Suisse-Freiheitsindex zeigt genau diese Unterschiede zwischen den Kantonen auf. Dabei lassen sich auch heute noch Spuren identifizieren, die durchaus mit den aufgezeigten historischen Entwicklungen der Schweiz erklärt werden können. So fällt auf, dass gerade in der Innerschweiz noch immer ein eigenes Freiheitsverständnis vorherrscht:
Schon ein kurzer Blick auf den Avenir-Suisse-Freiheitsindex 2021 zeigt, dass insbesondere die Freiheiten im zivilen Subindex bei den ehemaligen Sonderbundkantonen – mit Ausnahme von Freiburg – im Schweizer Vergleich unterdurchschnittlich ausgeprägt sind. Bei den ökonomischen Freiheiten bestehen hingegen gewisse Unterschiede (vgl. Abb. Freiheitsindex 2021). Eine vertiefte Analyse der freiheitlichen Ordnung der Innerschweizer Kantone wird Avenir Suisse – parallel zur Veröffentlichung des Freiheitsindexes 2022 – präsentieren.
Dieser Blogbeitrag erscheint als Vorschau auf eine Analyse der Innerschweiz im Rahmen des «Avenir-Suisse-Freiheitsindexes».