Gleich bei der Lancierung und mit viel Getöse verkündeten die Macher hinter Libra, den Grundstein für ein gerechteres globales Finanzsystem bauen zu wollen (Libra Association 2020a). Dabei wurden besonders die Probleme in Entwicklungsländern hervorgehoben. Hier besteht durchaus Handlungsbedarf – doch so wie es derzeit aussieht, wird Diem keine Abhilfe schaffen.
Unbanked bleiben wohl auf der Strecke
Weltweit gibt es 1,7 Mrd. «Unbanked». Das sind Menschen, die keinen Zugang zu Finanzdienstleistungen wie einem Bankkonto oder Zahlkarten haben, sondern ausschliesslich auf die Nutzung von Bargeld angewiesen sind. Ein Bericht der Weltbank zeigt, dass die Einbindung der Unbanked in das Finanzsystem Einkommensmöglichkeiten erhöhen könnte, womit die extreme Armut um bis zu 22% reduziert werden könnte (Demirguc-Kunt et al. 2018; Suri und Jack 2016).
Wie bindet man nun die Unbanked am besten ins Finanzsystem ein? Bei der Antwort auf diese Frage spielt ein weiteres Mal die Technologie eine zentrale Rolle. Interessanterweise verfügen nämlich von den 1,7 Mrd. Unbanked ganze 1,1 Mrd. über ein Mobiltelefon (Demirguc-Kunt et al. 2018). Da liegt es auf der Hand, neue Finanzdienstleistungen über mobile Geräte anzubieten (vgl. Box).
Wie Mobile Money in Ostafrika die Zahlungslandschaft verändert
Eines der weltweit bekanntesten Beispiele für Mobile Money ist M-Pesa. Dieses System wird vom kenianischen Telekomanbieter Safaricom betrieben. Bei einem Netz von über 400’000 Agenten kann mobiles Guthaben aufgeladen oder Bargeld abgehoben werden. Über SMS-Technologie können dann Zahlungen sowohl zwischen Personen (Peer-to-peer, P2P) als auch an Kassen (Point of Sale, PoS) abgewickelt werden (Ndung’u 2021; Vodafone 2021).
Laut einer UN-Studie konnte M-Pesa zwischen 2008 und 2014 rund 2% der Haushalte in Kenia über die Armutsgrenze heben (Vereinte Nationen 2018). Das scheint eine geringe Zahl zu sein, gerade auch im Vergleich mit dem von der Weltbank geschätzten Potenzial der Einbindung von Unbanked in das Finanzsystem (vgl. Haupttext). M-Pesa ist denn auch nicht unumstritten. Safaricom hat sich mit dem Zahlungssystem eine monopolartige Situation erarbeitet, die relativ hohe Gebühren erlaubt. Diese wurden zwar in jüngster Zeit wiederholt gesenkt, aber eine P2P-Transaktion kann unter gewissen Umständen noch immer bis zu 6%, ein Bargeldbezug sogar bis zu 27% des Transaktionsbetrags an Gebühren verursachen (Safaricom 2021).
Die Idee zur Einbindung der Unbanked über das Mobilfunknetz ist also nichts Neues. Im Vergleich zu den etablierten Mobile-Money-Anbietern hätte Diem mit niedrigeren Gebühren auftrumpfen können – wenn sie denn wirklich niedriger ausgefallen wären. Aus dem Versprechen eines globalen und inklusiven Finanzsystems für die Unbanked dürfte vorerst jedoch wenig werden. Diem startet bekanntlich ausschliesslich in den USA.
Auch wenn das System einmal global ausgerollt werden sollte, deuten verschiedene Passagen in der derzeitigen Projektdokumentationen auf unüberbrückbare Hürden für Unbanked hin. So sollen nur jene Kunden Zugang zum Netzwerk erhalten, die sowohl über eine amtliche ID und eine Bankverbindung verfügen. Gerade Unbanked verfügen aber selten über einen anerkannten Identitätsnachweis, womit ihnen das Nutzen von Diem verwehrt bleibt.[1]
Die eigentliche Zielgruppe Diems findet sich derzeit also weniger in Entwicklungsländern wieder. Ob aber in den USA und Europa die breite Masse Diem mit offenen Armen empfangen wird, ist unklar. Schliessich stehen hier bereits mehrere funktionierende Zahlungssysteme zur Verfügung. Entscheidend wird in diesen entwickelten Volkswirtschaften sein, ob Zahlungen mit Diem tatsächlich schneller, billiger und bequemer werden – und ob Bedenken bezüglich der Privatsphäre glaubwürdig ausgeräumt werden können. Das gilt auch für die Schweiz.
Die Situation in der Schweiz
Wie in anderen europäischen Ländern sind auch hierzulande die Vorbehalte gegenüber Facebook, dem federführenden Konzern hinter Diem, gross. Im Gegensatz zu Entwicklungsländern sind bargeldlose Zahlungsmittel in der Schweiz zudem bereits weit verbreitet, und Endkunden werden bei Inlandzahlungen mehrheitlich von Gebühren verschont. Das ist alles andere als eine ideale Ausgangslage für Diem.
Zudem gibt es in der Schweiz auch bereits einen direkten Konkurrenten für mobile Zahlungslösungen: Twint. Dahinter steckt ein breites Konsortium von Schweizer Banken, die vor rund 4 Jahren eine gemeinsame Zahlungs-App lanciert haben.[2] Ganz nach dem Motto «Mobile First», dürfte sich auch Diem dem Kunden in der Form einer Smartphone-App zeigen. Hinter den Kulissen steckt bei Twint hingegen eine ganz andere Architektur, die an bewährte Kreditkartensysteme erinnert – es fallen auch entsprechende Gebühren an (vgl. Box).
Hinter dem modernen Twint steckt eine altbewährte Systemarchitektur
Begünstigt vom Wunsch nach einem hygienischen Zahlungsmittel hat Twint während der Covid-19-Pandemie innerhalb eines Jahres die Nutzerbasis um 80% ausgebaut. In der Schweiz hat die App damit mittlerweile mehr als 3 Mio. Nutzer (Twint 2020). Wie bei den gängigen Kredit- und Debitkarten werden vom Endkunden keine Gebühren verlangt, weder für Zahlungen an einer Kasse noch für Peer-to-peer-Zahlungen; Händler hingegen sind bei Twint mit teilweise hohen Gebühren konfrontiert.[3]
Hinter der Smartphone-App steckt denn auch eine fast identische Architektur wie bei den alten Kreditkarten: das Vierparteiensystem. So kommt auch bei Twint ein Acquirer und ein Issuer dazu. Der Acquirer unterhält die Beziehung zum Händler, der Issuer jene zum Endkunden (NZZ 2016). Genau solche Intermediäre wollen verschiedene neue Projekte im Finanzbereich mit Technologie umgehen (Stichwort: Decentralized Finance, DeFi). Der Grund dafür ist klar: Jeder zusätzliche Intermediär bedeutet in der Regel auch höhere Gebühren.
Bei den heutigen Zahlungssysteme zahlen somit Händler teilweise bedeutende Gebühren. Diese haben in der Folge einen Anreiz, günstigere Lösungen rasch einzuführen. Da es sich bei Zahlungsplattformen allerdings um zweiseitige Märkte handelt, müssten sich auch die Endkunden dazu entscheiden, ein neues Zahlungsmittel zu nutzen. Hier ist der Leidensdruck geringer, da die meisten Zahlungsarten für die Endkunden derzeit keine direkten Kosten verursachen. Eine Ausnahme sind internationale Überweisungen, die sowohl für Kunden als auch Händler noch immer kostspielig und langsam sind. Solche grenzüberschreitenden und teuren Transaktionen könnten denn auch eine Chance für einen Markteintritt Diems darstellen.
Innovativ muss es schon sein
Was in der Aufregung über die Gebühren manchmal etwas untergeht: Auch Bargeldzahlungen sind sowohl für Händler als auch für Endkunden nicht «gratis». Im Gegenteil. Rechnet man konsequent die Kosten des Bargeldmanagements mit ein (Kassenhaltung, Geldtransporte, Zeit für den Zahlungsvorgang, etc.), können gewisse Zahlungen am Ende teurer ausfallen, wenn sie mit Münzen und Noten beglichen werden.[4]
Das darf nicht verwundern, denn schliesslich werden ja weder Endkunde noch Händler gezwungen, elektronische Zahlungsmittel einzusetzen. Im Gegenteil, Kredit- und Debitkarten werden freiwillig genutzt. Der Grund dafür liegt im unmittelbaren Nutzen. Dieser ist gross, auch wenn das heute manchmal etwas vergessen geht. Das im 20. Jahrhundert entwickelte Konzept der Kreditkarte war eine echte Innovation: Sie vereinfachte das Leben vieler und wurde deshalb rasch und breit akzeptiert.
Diese historische Lehre gilt noch heute. Auch bei Diem und anderen neuen Finanzprojekten geht es nicht einfach um eine andere Verteilung «des Kuchens», sondern um die Vergrösserung. Wie bei der ersten Kreditkarte gilt es, Kosten zu verringern und den Komfort zu erhöhen. Zentral für den Erfolg ist also, ob das dank dem Einsatz neuer Technologie gelingt.
Noch ist unklar, ob sich Diem dereinst als eine echte Innovation im Bereich Zahlungssysteme entpuppen wird. Sollte das Facebook und Co. aber gelingen, dürfte das nicht spurlos am Finanzsektor vorbeigehen. Im nächsten und letzten Teil dieser Blogserie werden deshalb die möglichen wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen von Diem analysiert.
Übersicht der Blogserie: «Diem, das globale Finanzsystem und die Schweiz»
[1] Wallets, bei denen keine Identitätsprüfung vorgenommen wurde, werden Unhosted Wallets genannt. Bereits im White Paper 2.0 wurden die ursprünglichen Ambitionen mit einem unregulierten Zugang über Unhosted Wallets gedrosselt, aber noch nicht beerdigt (Libra Association 2020a). Demnach hätten die Unhosted Wallets mit einer Verzögerung zur Verfügung gestellt werden sollen, sobald die Zustimmung der zuständigen Regulatoren erfolgt sei. Sollte Diem einmal grünes Licht für die Unhosted Wallets erhalten, wären diese aber zur Bekämpfung von Finanzkriminalität mit Saldo- und Transaktionslimiten versehen. Ausserdem würden beim Überschreiten der Limiten für Unhosted Wallets die Umwandlung in die Landeswährung zwingend, ähnlich zu Devisenkontrollen (OMFIF 2021). Seit der Veröffentlichung des zweiten White Papers hat Diem-Chefökonom Catalini wiederholt erwähnt, dass sie noch «mehrere Jahre» von der Einführung von Unhosted Wallets entfernt sind (Coindesk 2021; OMFIF 2021). Von Seite Diems wird zwar weiterhin beteuert, dass die Einbindung der Unbanked im Zentrum ihrer Strategie steht (American Banker 2021; Coindesk 2021). Dies klingt angesichts der derzeitigen Pläne aber mehr nach Sonntagsreden.
[2] Twint in der heutigen Form entstand 2017 aus dem namensgleichen Vorgänger Twint und der Bezahl-App Paymit. Der Twint-Vorgänger wurde 2014 von der Postfinance gegründet, während die Paymit-App 2015 von der UBS, Six und ZKB ins Leben gerufen worden ist. Obwohl sich bei der Fusion der Name Twint durchgesetzt hat, steckt dahinter die Systemarchitektur von Paymit (NZZ 2016).
[3] Diese Gebühren sind bei Twint nicht unerheblich (NZZ 2021b). Tritt Twint selbst als Acquirer auf, können Zahlungen über statische QR-Codes abgewickelt werden, wobei eine Gebühr von 1,3% fällig wird (Twint 2021) – solche Codes kommen beispielsweise beim Bauernhof-Kiosk zum Einsatz. Unklar sind die genauen Gebühren hingegen, wenn es um etablierte Läden oder Online-Shops geht, wo dynamische QR-Codes zum Zug kommen. In diesem Fall werden die Gebühren einzeln mit Acquirer wie Worldline Six verhandelt (Twint 2021). Diese Gebühren können mit 1,4% + Fr. 1.50 pro Transaktion noch höher als bei den statischen QR-Codes ausfallen (Worldline SIX Payment Services 2020).
[4] Eine Analyse zu den Kosten des Bargelds in der Schweiz schätzte dieses als insgesamt dreimal teurer ein als elektronische Zahlungssysteme, wobei die Studie schon etwas in die Jahre gekommen ist (Handelszeitung 2015; NZZ 2019f). Auch andere Untersuchungen aus den USA und Deutschland zeichnen ein ähnliches Bild. Bargeldzahlungen sind jeweils lediglich bei Kleinbeträgen kostengünstiger, bei grösseren Beträgen kehrt sich das Bild um (Kleine et al. 2013). Ebenfalls sind mit Bargeld ein erhebliches Diebstahlrisiko sowie Sicherheitskosten und Bearbeitungszeit verbunden – alleine in den USA verlieren Unternehmen durch Diebstahl jährlich 40 Mrd. $, was 1% des gesamten Umsatzes entspricht (Chakravorti und Mazzotta 2013). Garcia-Swartz et al. (2004) konstatieren demnach, dass der Übergang zu einer bargeldlosen Gesellschaft die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt verbessern würde. Die Kostenschätzungen solcher Studien blenden hingegen meist übergreifende Themen wie beispielsweise den Schutz der Privatsphäre aus, der je nach Ausgestaltung von elektronischen Zahlungsmitteln nicht gewährleistet ist. Zudem kann die Marktmacht von Zahlungsnetzbetreibern dazu führen, dass der Wettbewerb nicht richtig spielt und aus wohlfahrtsökonomischen Überlegungen zu hohe Gebühren für elektronische Transaktionen verlangt werden (vgl. die Diskussion um den sogenannten «Tourist Test» bei Debit- und Kreditkartensystemen).