Professor Jonathan Steinberg schreibt in seinem Beitrag zu dieser Sommerreihe, dass «kein anderer Staat, und sicher nicht die Europäische Union, das Schweizer Modell wird nachahmen können». Als Italiener finde ich diese These sehr ansprechend − auch wenn das einen traurigen Gedanken einschliesst.
Konsumenten in einer Marktwirtschaft können Fehler machen, wobei die Eleganz des Systems gerade darin besteht, dass sie ihre eigenen Fehler auch wieder korrigieren können: Sie können die Verkäufer, mit denen sie unzufrieden sind, ihren Missmut spüren lassen. Jeder von uns kennt ein Restaurant, das derart missratene Pommes Frites serviert hat, dass er es kein zweites Mal besuchen würde. Heutzutage müssen sich Konsumenten nicht einmal mehr auf den persönlichen Boykott eines kommerziellen Angebots beschränken, sondern sie können ihre schlechten Erfahrungen in den sozialen Netzwerken kundtun. Die Menschen interessieren sich für feines Essen und gute Weine, lesen spezialisierte Führer und benützen einschlägige Apps auf ihren Smartphones. Wer immer ein romantisches Wochenende für zwei plant, studiert die Hotelbeurteilungen genau, um ein zu Geschmack und Portemonnaie passendes Angebot zu finden.
Wenig lernfähige Politik
Marktprozesse sind aus Konsumentensicht im Grossen und Ganzen ein Lernprozess. Häufig wird die Demokratie dahingehend idealisiert, dass auch Wähler Erfahrungen sammeln können und durch «Learning by Doing» über die Zeit zu immer fundierteren Urteilen finden können. Die Schweizer Demokratie könnte als Evidenz für eine derartige Argumentation herhalten, aber es sieht ganz so aus, als ob benachbarte Länder bei dieser Art von Prozessen weniger schnell und effizient sind. Als ein Italiener, der am Comosee aufgewachsen ist, finde ich es ziemlich deprimierend, dass meine lombardischen Mitbürger die Schweizer Institutionen zwar hoch schätzen, aber gleichzeitig unfähig zu sein scheinen, ihre Lektion daraus zu lernen.
Die Norditaliener empfinden die Schweizer als freiere und reichere Menschen, die noch dazu in einer ruhigeren institutionellen Umgebung leben. Ich glaube nicht, dass sie ihre Nachbarn genetisch oder anthropologisch anders einschätzen. Trotzdem sind die Lombarden, zumindest in Bezug auf die demokratischen Mechanismen, wenig um Reformen und Veränderungen bemüht, die die Kluft zur Schweiz verringern könnten, obwohl ich weiss, dass viele die Schweizer Eidgenossenschaft als ein Beispiel für eine funktionierende Demokratie sehen.
Nachbarn sind dafür prädestiniert, voneinander zu lernen. Im realen Leben tun sie genau das. Die einen kaufen einen Satellitenfernseher, weil ihnen das Pärchen in der Nachbarwohnung von der Fülle der TV-Sender vorschwärmt, die anderen übernehmen ein Rezept für köstliches eingelegtes Gemüse. Die Kehrseite der Medaille: Benachbarte Völker haben Schwierigkeiten damit, sich von den Nachbarn inspirieren zu lassen. Das berauschende Wirtschaftswachstum in der Türkei hat bei den Griechen kein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Reformen erzeugt. Der Erfolg der Schweiz als Magnet für Kapital, Investoren und Menschen liess in den Köpfen der Italiener und der Franzosen keine Glocken läuten, dass kleinere Regierungen eventuell besser arbeiten.
Eine schreckliche Nachricht
Selbstverständlich wäre das Nachahmen von Schweizer Institutionen kein leichtes Unterfangen, denn sie sind das Resultat jahrhundertelanger Entwicklung. Das Kernproblem liegt meiner Ansicht nach aber in einem besonderen Geheimnis der Schweizer Demokratie: Die Schweiz ist aufgrund ihrer institutionellen und politischen Struktur «allergisch» gegen Grossprojekte, die praktisch überall sonst das tägliche Brot der Politik sind. Wahrscheinlich gibt es auch in der Schweiz ideologische Grabenkämpfe oder extreme Positionsbezüge – das Blut ist hier genauso rot wie anderswo. Aber die Konkordanzregierung, das kantonale System und der Umstand, dass die Demokratie durch die vielen Referenden zu teilweise sehr lokalen Fragen fast zur Routine verkommt, hemmen die Leidenschaft für Grossprojekte, die andernorts die öffentliche Debatte anheizen. Die Schweizer Institutionen sind ein bemerkenswerter Mechanismus für die Bewahrung einer gewissen politischen Trägheit, die ihrerseits eine wichtige Kulisse für die menschliche Freiheit und für eine gesunde Marktwirtschaft ist.
Die Italiener könnten die Schweiz nicht nachbauen, weil es in der Schweizer Demokratie um kleine Dinge geht, während wir uns nach grossen Programmen, starken Führern und allumfassenden ideologischen Konstrukten sehnen. In Tat und Wahrheit ist die Schweiz nicht kopierbar – und das ist eine schreckliche Nachricht.