BaZ: Herr Schwarz, soll die Schweiz hoffen, dass EU-kritische Parteien bei der Europawahl an diesem Wochenende zulegen?
Gerhard Schwarz: Ich gebe eine typische Ökonomenantwort: Einerseits ja, denn wenn vermehrt der Finger auf die Demokratie und sonstigen Defizite der EU gelegt wird, ist das gut. Anderseits ist die EU in einem schlechten Zustand. Eine weitere Zersplitterung der Parteienlandschaft könnte es schwieriger machen, die wichtigen wirtschaftlichen Probleme der Währungs- und Schuldenkrise beherzt anzugehen, und das kann nicht in unserem Interesse sein.
Ist denn für die Schweizer Volkswirtschaft ein geeint auftretendes Europa besser als eines, in dem die einzelnen Staaten unabhängiger von Brüssel agieren?
Wir können nicht auf unseren gut 40000 Quadratkilometern den Föderalismus und Dinge wie den Steuerwettbewerb hochhalten und gleichzeitig in Europa für eine möglichst grosse Vereinheitlichung plädieren. Ein Wettbewerb auch der Institutionen bringt in der Summe mehr Positives für den Kontinent hervor.
Sie stellen in der Schweiz eine «Wohlstandsverwöhnung» fest. Was ist das?
Wir sind zwar etwa mit Blick auf asiatische Länder fasziniert von der Dynamik, dem Willen der Menschen dort, vorwärts zu kommen. Gleichzeitig sehen wir in der Schweiz wenig Anlass, etwas zu ändern es geht uns ja gut. Wir haben ein grosses Sicherheitsbewusstsein und glauben, mit möglichst wenig Risiko den Wohlstand erhalten zu können. Das ist ein Trugschluss. Dazu kommt, dass, wenn in einer gesättigten Volkswirtschaft wie der unseren die Wachstumsraten kleiner werden, der Kampf um die Wohlstandsverteilung zunimmt.
Wenn Sie die Abstimmungen der letzten Zeit anschauen: Wie viel Pragmatismus attestieren Sie der Schweizer Bevölkerung in wirtschaftspolitischen Fragen?
Diesbezüglich war ich in den letzten Jahren zeitweise etwas verunsichert. Doch heute muss ich sagen: Die Vernunft überwiegt doch, das hat man zuletzt bei der Abstimmung über den Mindestlohn gesehen, die erfreulich und unerwartet deutlich verworfen wurde. Ich vermute: Wo der Bürger ernsthafte wirtschaftliche Konsequenzen befürchtet, stimmt er richtig. Wo er das Gefühl hat, er könne ohne grosse wirtschaftliche Konsequenzen ein Signal setzen, wagt er es, «unvernünftig» zu stimmen. Dann hat die Abstimmung eine Denkzettel- oder Ventilfunktion.
Wie ist die Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative zu sehen?
Der 9. Februar ist effektiv schwierig einzuordnen. Alles andere passt in das erwähnte Schema, einschliesslich Minder-Initiative, die ich zwar für unsinnig halte, weil sie Kosten und Bürokratie verursacht, ohne viel zu bewirken, aber gross wohlstandsgefährdend war sie wohl nicht. Vielleicht war der 9. Februar einfach eine Art Unfall. Man spricht immer vom sogenannten Souverän, der zugestimmt habe. Faktisch waren es 50,3 Prozent der Stimmenden, die Ja gestimmt haben. Also haben immerhin 49,7 Prozent Nein gesagt. Unter den Ja-Stimmenden gab es wohl einige, die ein Signal setzen wollten, dann aber über die Annahme erschrocken sind.
Avenir Suisse hat den Vorschlag gemacht, ein Globalziel zur Zuwanderung für die nächsten zehn Jahre festzulegen, statt mit jährlichen Kontingenten zu arbeiten. Wie viel Chancen rechnen Sie sich aus, dass das durchkommt?
Da muss man zuerst sagen, was Avenir Suisse ist. Wir sind keine Partei, die Gesetzesvorschläge unterbreitet, wir nehmen auch nicht an Vernehmlassungen teil. Wir geben Denkanstösse. Wenn der eine oder andere Bestandteil des Pakets, das wir präsentiert haben, in eine Lösung einfliesst, haben wir unser Ziel erreicht. Aber konkret: Das Interesse aus der Politik war sehr gross. Wir haben den Vorschlag beim Bundesrat und bei mehreren Parteien präsentiert. Aber der Zug fährt wohl in eine andere Richtung.
Was meinen Sie damit?
Die Strategie des Bundesrats geht in die gleiche Richtung wie diejenige der SVP. Das heisst: Wortgetreue, möglichst enge Umsetzung der Initiative. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Aus welchen?
Die Initianten triumphieren und möchten deswegen eine exakte Umsetzung ihres Vorschlags. Der Bundesrat möchte in Brüssel ebenfalls eine wortgetreue Umsetzung präsentieren, aber hauptsächlich, um die Reaktion zu erhalten, dass diese nicht mit den Abkommen mit der EU vereinbar sei, und damit dem Schweizervolk sagen zu können, dass es sich ins eigene Bein geschossen hat.
Apropos vereinbar: Wagen Sie eine Prognose, wie lange die Schweiz im Inland noch das Bankgeheimnis behalten kann?
Es gibt viele Leute, die der Meinung sind, man könne nicht ausländischen Finanzämtern etwas gewähren und es den Schweizer Steuerbehörden verweigern. Ich bin anderer Meinung. Es gibt keinen Grund, das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Staat infrage zu stellen. Das Problem der Bankgeheimnis-Initiative ist, dass sie von der SVP kommt, das ist auch für viele Bürgerliche ein Grund zur Ablehnung. Wenn es aber zur Ablehnung kommt, dürfte sich das Bankgeheimnis nicht mehr halten lassen. Dann erhalten seine Gegner bis hinauf in die höchsten Ebenen eine zusätzliche Legitimation durch den negativen Volksentscheid.
Dieses Interview erschien in der «Basler Zeitung» vom 24.05.2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Basler Zeitung».