Die Volksschule der Zukunft soll vor allem Kompetenzen vermitteln: Im Lehrplan 21 werden die Bildungsziele der Pflichtstufe in den Kantonen vollkommen neu definiert – in einem Detaillierungsgrad, der sogar die Lehrer befremdet.
Der Lehrplan 21 hat nicht nur eine lange Vor-, sondern auch eine besondere Entstehungsgeschichte. Als der Souverän 2006 mit der Zustimmung zur neuen Bildungsverfassung grünes Licht zur Schaffung des «Bildungsraums Schweiz» gab, erwartete er kaum einen einheitlichen, umfassenden und auf schwer fass- und messbare Kompetenzen ausgerichteten Lehrplan. Man hoffte wohl einfach, dass der kantonsübergreifende Wechsel von Schulen ohne Qualitäts- und Zeitverlust und ohne grosse Aufarbeitung von Schulstoff erleichtert würde.
Technokratischer Selbstläufer
Nach der Annahme der neuen Bildungsverfassung begannen Experten im Schatten der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK) weitgehend unkontrolliert mit der Ausarbeitung des Lehrplans. So entstand ein technokratisches Werk, das im Lauf der Jahre ständig grösser wurde, weil sich immer mehr addierte und wahrscheinlich auch niemand mehr den Überblick besass. Noch 2011 beruhigten die zuständigen Behörden, sie würden sich nur auf wenige, konkrete und überprüfbare Ziele für das laufende Jahrzehnt verständigen. Diese Ziele stützten sich auf die in der Verfassung verankerten Eckpfeiler der Qualität und Durchlässigkeit.
Gesellschaftspolitische Ziele
Umso überraschender wurde im Juni 2013 ein rund 500-seitiger, harmonisierter Lehrplan in die Vernehmlassung geschickt. Nicht nur die Detailliertheit erstaunte, sondern noch mehr die grosse Menge an Kompetenzen und fächerübergreifenden Themen in den verschiedensten Lebens- und Gesellschaftsbereichen, welche die Kinder in drei Zyklen bewältigen sollen. Dem Lehrplan scheint ein auf gesellschaftspolitische Zielvorstellungen ausgerichtetes Bildungskonzept zugrunde zu liegen. Problematisch ist dieser Ansatz vor allem für das Verständnis der Funktionsweise der Wirtschaft.
Ideologisch gefärbte Ökonomielehre
So erfreulich die Aufnahme eines Fachbereichs «Wirtschaft, Arbeit und Haushalt» auf den ersten Blick ist, so irritierend fällt auf den zweiten Blick dessen ideologische Färbung auf. Es geht primär nicht darum, die Funktionsweise der Wirtschaft im Allgemeinen und von Märkten im Besondern zu erklären und zu verstehen. Vielmehr erhält man den Eindruck, dass es um die Vermittlung einer konsum- und wachstumskritischen Verhaltensweise geht. Die Ökonomie wird nicht als Wissenschaft der Knappheit verstanden, die zeigt, wie Märkte viele Probleme der Güterverteilung oder der Umweltverschmutzung über Preise effizienter lösen können als über staatliche Markteingriffe und Verbote. Oder wie der Wettbewerb und ein offenes Handelssystem Innovationen und Wachstum fördern und somit den Fortschritt – auch in der Dritten Welt – ermöglichen. Das schliesst eine kritische Auseinandersetzung mit Märkten und der Globalisierung nicht aus. Nur sollte man vorher den ganzen sozioökonomischen Kontext einigermassen verstehen und wissen, dass man zwischen der Ökonomie als Wissenschaft und der Moral unterscheiden muss.
Redimensionierung und Priorisierung
Eine bildungspolitische Reform kann nur mit Erfolg umgesetzt werden, wenn die Lehrpersonen dahinter stehen. Heute stellt man mit Ernüchterung fest, dass der Lehrer-Dachverband gegenüber dem Lehrplan 21 viele Einwände hat. Zwar begrüsst er die Orientierung an Kompetenzen, aber gleichzeitig wird eine starke Redimensionierung und Priorisierung gefordert, weil viele Kinder überfordert würden. Es fehle an einer Abstimmung des Lehrplans mit den Stundentafeln, der Notengebung und der Lehrerweiterbildung . Schliesslich sei er für Schüler, Eltern und eine breite Öffentlichkeit kaum verständlich. Es scheint, dass der Lehrplan nochmals gründlich überarbeitet werden muss. So ist zu befürchten, dass aus dem Lehrplan 21 letztlich ein« «Murks» wird, an dem sich niemand mehr recht erfreuen kann.
Grosse Würfe haben es schwer
Es wäre für die Träger des Bildungssystems eine einmalige Gelegenheit gewesen, die Volksschule zukunftsfähig und innovativ zu erneuern. Doch grosse Würfe haben es in der Bildungspolitik offenbar schwer. Nicht viel besser erging es bekanntlich dem Hochschulraum Schweiz, wo nach einem mehrjährigen Hickhack ein kompliziertes Hochschulförderungs- und -Koordinationsgesetz entstanden ist, mit dem niemand wirklich zufrieden ist.
Glücklicherweise stellen die neuesten PISA-Resultate den Schweizer Schülern im Vergleich mit Europa (nicht zu den asiatischen Ländern) ein positives Zeugnis aus, so dass der neue Lehrplan vielleicht gar nicht so wichtig ist. Wichtig ist aber das Engagement und der Einsatz von gut ausgebildeten und motivierten Lehrerinnen und Lehrern, denen man nicht nur den nötigen Freiraum gewährt, sondern auch die gebührende Wertschätzung entgegenbringt.