73 Prozent der öffentlich-rechtlichen Pensionskassen wären Ende 2012 nicht in der Lage gewesen, sämtliche versprochenen Renten ihrer Versicherungen auf einen Schlag auszuzahlen. Kurz, knapp drei Viertel befanden sich in Unterdeckung. Das zeigt eine neue Studie des Beratungsunternehmens Complementa. Diese Zahl ist weniger auf ein Missmanagement der Kassen zurückzuführen, sondern vielmehr das Ergebnis gesetzlicher Sonderregelungen, die solche Unterdeckungen während Jahrzehnten spezifisch zuliessen. Neu müssen öffentlich-rechtliche Pensionskassen innert 10 Jahren vollkapitalisiert werden, d.h. einen Deckungsgrad von 100 Prozent ausweisen eine Forderung, die seit jeher für privatrechtliche Einrichtungen galt. Damit präsentiert sich eine Rechnung, deren Höhe dazu verleitet, notwendige Schritte hinauszuzögern.
Der ausgewiesene Finanzierungsbedarf ist beträchtlich und beträgt alleine für die kantonalen Pensionskassen 30 Milliarden Franken. Diese Zahl berücksichtigt allerdings nicht die Schwankungen, die durch den Einsatz unterschiedlicher, von den Kassen frei wählbarer Rechenparameter, wie des technischen Zinses, entstehen. Dieser Diskontierungssatz zukünftiger Verpflichtungen variiert zwischen 2,5 Prozent (Kanton Bern) und 4,25 Prozent (Kanton Freiburg) und hat einen signifikanten Einfluss auf die Bilanz einer Kasse. Rechnet man nun den Finanzierungsbedarf mit einem einheitlichen technischen Zins von 3,0 Prozent, wie die Schweizer Kammer der Pensionskassenexperten für 2013 vorgibt, ergibt sich ein Finanzierungsbedarf von über 44 Milliarden Franken.
69 000 Franken pro Versicherten
Die Finanzierungslücke der kantonalen Pensionskassen in Milliarden Franken ist für den einzelnen kaum fassbar. Plastischer wird sie, wenn man sie auf die einzelnen Versicherten (Aktive und Rentner) umrechnet. Im Schweizer Durchschnitt beträgt der Fehlbetrag pro Versicherten 69 000 Franken per Ende 2012, wobei erhebliche regionale Unterschiede festzustellen sind (Grafik).
Während in Appenzell (Al, AR), in Obwalden und in Uri die Renten bereits vollfinanziert sind, fehlen für jeden Genfer Staatsangestellten 174 000 Franken. In der lateinischen Schweiz (FR, GE, JU, NE, TI, VD, VS) sind es im Schnitt 127 000 Franken. Bei solchen Beträgen ist es legitim, nicht nur über die Finanzierung, sondern auch über die Leistungen nachzudenken. Im Kanton Genf wird deshalb neu das Rentenalter 64 eingeführt, in der Waadt ist eine Erhöhung von 60 auf 62 Jahre vorgesehen.
Betroffene Mitarbeiter werden eine Erhöhung des reglementarischen Rentenalters vehement bekämpfen. Das ist verständlich und nachvollziehbar. Verständlich ist aber auch die Empörung jüngerer Steuerzahler, welche die Finanzierungslücke in Milliardenhöhe füllen und selber bis zum 65. Lebensjahr arbeiten müssen. Diese Empörung schwellt vor allem dann an, wenn die zukünftigen Renten auch nach der Sanierung nicht vollständig vorfinanziert werden und wenn Privilegien wie Vorpensionierungen ohne Leistungskürzungen bestehen bleiben. Eine solche Reaktion darf nicht als Votum gegen die Staatsangestellten verstanden werden, sondern ist lediglich ein Ruf nach mehr Fairness und nach gleichen Regeln für alle in der zweiten Säule.
Teilkapitalisierung heisst Umverteilung
Wenn dieser Ruf weiterhin zu hören ist, dann nur deshalb, weil ihm nur halbherzig gefolgt wurde. Gemäss neuem Bundesrecht dürfen öffentlich-rechtliche Pensionskassen künftig weiterhin einen Deckungsgrad unter 100 Prozent anvisieren, falls sie bis Mitte 2014 ausdrücklich eine Staatsgarantie erhalten. Dann müssen sie lediglich bis 2052 einen Deckungsgrad von 80 Prozent erreichen. Man spricht von einer Teilkapitalisierung. Diese wird primär in der Romandie angestrebt, allerdings diskutieren sie auch andere Kantone wie zum Beispiel Basel-Stadt. Das System der Teilkapitalisierung im BVG ist nicht nur für jene stossend, denen dieses fragwürdige Privileg zu Recht verwehrt bleibt. Eine Teilkapitalisierung oder Dauerunterdeckung bedeutet nichts anderes, als dass laufende und heute versprochene Renten nicht mit genügend Kapital unterlegt sind. Die fehlenden Mittel werden über Steuergelder finanziert (innerhalb der gleichen Generation) oder als implizite Schulden verbucht (Übertragung der Kosten auf kommende Generationen). In beiden Fällen sind das Umverteilungen, die der beruflichen Vorsorge, in der jeder für seine eigene Vorsorge sparen soll, systemfremd sind.
Die Sonderbehandlung öffentlich-rechtlicher Vorsorgeeinrichtungen wird damit begründet, dass der Staat eine dauerhafte Existenz pflege: Es wird immer einen Arbeitgeber (den Staat), Arbeitnehmer (die Beamten) und Steuerzahler geben, die die Finanzierung der Renten garantieren können. Jederzeit einen Deckungsgrad von 100 Prozent zur Sicherstellung der laufenden und versprochenen Renten zu verlangen, sei deshalb nicht nötig.
Diese Argumentation greift zu kurz. Auch wenn der Staat nicht verschwindet, wird er seine Aufgaben laufend anpassen müssen. Die Umwandlung der SBB, der Post und der Swisscom in Aktiengesellschaften sind Beispiele dafür, wie in den letzten Jahren Sektoren der Verwaltung in die Selbständigkeit entlassen und privatrechtlich organisiert wurden. Die Pensionskasse dieser Betriebe befand sich zum Zeitpunkt der Ausgliederung in Unterdeckung, ein Hinausschieben dieser impliziten Schulden war nicht mehr möglich. Durch die Umwandlung in Aktiengesellschaften und die damit verbundene Rechtsformänderung der jeweiligen Pensionskasse wurden deren Schulden explizit. So musste der Bund 21 Milliarden Franken für die Ausfinanzierung dieser Vorsorgeeinrichtungen mobilisieren. Diese Fälle sind in ihrer Grössenordnung extrem. Ähnliches kann sich aber auch auf Ebene der Kantone und Gemeinden ereignen. Man denke zum Beispiel an die Privatisierung von Spitälern, Wasseraufbereitungs- und -behandlungsanlagen oder von städtischen Elektrizitätswerken.
Nebst dem Aufgabenkatalog der staatlichen Körperschaften kann sich auch deren Einzugsgebiet verändern. Seit 2000 haben über 600 Gemeinden fusioniert. Was im Zuge politischer Fragen leicht vergessen geht: Unterschiedliche Deckungsgrade der Gemeindekassen können die Kosten einer Fusion massiv beeinflussen. Die Frage, wer diese Ausfinanzierungskosten trägt die Bürger einer einzelnen Gemeinde vor der Fusion oder die Bürger beider Gemeinden nach der Fusion , birgt das Potential, ein Fusionsvorhaben zum Scheitern zu bringen. Das Argument der Dauerhaftigkeit staatlicher Institutionen ist also nicht stichhaltig.
Dritter Beitragszahler fällt aus
Nebst prinzipiellen Überlegungen sprechen auch ökonomische Gründe gegen eine Teilkapitalisierung. Befürworter der Ausnahmeregelung argumentieren, dass die Sanierung einer teilkapitalisierten Kasse günstiger als im Falle einer Vollkapitalisierung sei, da die gesetzlich vorgeschriebene Finanzierungslücke kleiner ist. Dieser Eindruck trügt. Eine Kasse in Unterdeckung hat weniger Kapital, das an den Finanzmärkten investiert werden kann. Dadurch fallen die Erträge des «dritten Beitragszahlers», der Zinseszinsen, geringer aus und müssen durch zusätzliche Lohn- oder Sanierungsbeiträge kompensiert werden. Jedes Hinausschieben der Sanierungsmassnahmen lässt deshalb die Kosten einer Ausfinanzierung steigen und bürdet die Verantwortung für die Vollkapitalisierung den kommenden Generationen auf. Das ist zweifelsfrei der einfachere Weg. Aber wer derartige Schritte unterstützt, handelt unverantwortlich.
Die Sanierung öffentlich-rechtlicher Körperschaften hat deshalb hohe Priorität, auch wenn es in Anbetracht der Kosten Übergangsfristen braucht. Das Ziel ist jedoch klar: Innerhalb der geltenden gesetzlichen Bestimmungen muss die Vollkapitalisierung unter Verzicht auf die Staatsgarantie angestrebt werden. Als zweitbeste Lösung soll innert kurzer Frist eine Ausfinanzierung meinetwegen mit Staatsgarantie anvisiert werden. So wird im Kanton Bern darüber diskutiert, die Sonderregelung einer Teilkapitalisierung zu nutzen, um einen Deckungsgrad von 100 Prozent, sprich Vollkapitalisierung, allerdings erst innert einer Frist von zwanzig Jahren zu erreichen. Langfristig müsste allerdings die 2010 verabschiedete Sonderbehandlung öffentlich-rechtlicher Körperschaften aufgehoben werden. Nur so kann der Grundsatz, dass jeder für seine eigene berufliche Vorsorge sparen soll, wieder hergestellt und langfristig gewahrt werden.
Dieser Artikel erschien im «Schweizer Monat» am 17. Dezember 2013.