Auch in der Region Zürich wird oft über den Mittelstand diskutiert. Zwar führt die anhaftende Zuwanderung dazu, dass sich das Wirtschaftswachstum in Zürich von demjenigen vergleichbarer Metropolen entkoppelt hat. Auf Pro-Kopf-Basis fällt es allerdings schwächer aus, in ihren individuellen Verhältnissen spüren viele Menschen die Prosperität nur wenig. Da in Zukunft nur wenig Realwachstum zu erwarten ist, rücken Verteilungsfragen in den Vordergrund. In der Schweiz, die sich stark aus der Mitte heraus definiert, ist dies fast gleichbedeutend mit der Mittelstandsdebatte. In Zürich sei es der Cocktail aus stagnierenden Einkommen, steigenden Wohnkosten an den bevorzugten Lagen und wachsender Abgabenlast, der den Mittelstand auslauge und aus seinen angestammten Quartieren und Wohnorten verdränge.
Dieser Schluss hält einer nüchternen Analyse allerdings nicht Stand, zumindest nicht, wenn man den Zeithorizont erweitert. In der Stadt Zürich blieb der Anteil des Mittelstands im Zeitraum 1990 bis 2010 mit knapp 70% konstant, in der Agglomeration waren die Veränderungen insgesamt unbedeutend (siehe Abb.). Während sich der Mittelstand im Osten des Kantons ausbreitete, ging er im Norden leicht zurück. Die hohe räumliche Konstanz hat ihre Gründe in den Besonderheiten des Immobilien- und Wohnungsmarktes: Einerseits im Mietrecht, das nachfragegetriebene Mieterhöhungen stark dämpft, andererseits im hohen Anteil von Wohnbaugenossenschaften, die sich zusehends dem Mittelstand öffnen. Dazu kommt, dass viele Haushalte Wohneigentum erworben haben und vor dem Nachfragedruck geschützt sind.
Tiefe und konstante Ungleichheit der Einkommen in der Schweiz
Dieser Befund ist typisch für die Befindlichkeit im schweizerischen Mittelstand. Schaut man auf die Zahlen, präsentiert er sich in guter Form, es ging ihm – absolut gesehen – wahrscheinlich nie besser als heute. So sind die mittleren Reallöhne – die wichtigste Einkommensquelle im Mittelstand – in den letzten Jahren weiter gestiegen. Unter den westlichen Industrieländern ist die Schweiz damit eine grosse Ausnahme, denn fast überall mussten die Mittelschichten schmerzliche Wohlstandsverluste hinnehmen. Hier blieb die Lohnquote mit 60% hingegen unverändert. Hinzu kommt die tiefe Arbeitslosigkeit von 3% und damit verbunden die rekordhohe Erwerbsbeteiligung von fast 80%. Die wichtigste Quelle von Ungleichheit wird damit eliminiert. Die Schweiz befindet sich darum unter den Ländern mit der tiefsten Ungleichheit der Einkommen, nur in Skandinavien sind die Unterschiede noch geringer. Und im Gegensatz zu den Nachbarländern hat die Ungleichheit seit 1990 nur wenig zugenommen.
Relativ an Boden verloren
Aber der Kontrast zwischen wirtschaftlicher Situation und Gefühlslage hat einen realen Hintergrund. Der Schweizer Mittelstand hat tatsächlich an Boden verloren, allerdings relativ, nicht absolut. Denn die hohen Einkommen sind seit 1990 mit rund 15% stärker gestiegen als die mittleren, die lediglich 7% zulegten. Und sogar die Tieflöhne wuchsen mit 10% stärker. Hinzu kommt die zunehmende Umverteilung, die den Mittelstand über Gebühr belastet, während er viel weniger als die Unterschicht von finanziellen und realen Transfers profitiert. Für den erwerbstätigen Teil des Mittelstands beträgt die umfassend berechnete Abgabenquote am Primäreinkommen massive 59%, die Leistungsquote hingegen nur 32%. Die mageren Lohnzuwächse und die Umverteilung haben dazu geführt, dass der Übergang zwischen Unter- und Mittelschicht fliessend geworden ist. Gleichzeitig setzen sich die höheren Einkommen ab.
Dieser Artikel erschien in der Zürcher Wirtschaft vom Januar 2013. Zum gleichen Thema erschienen in der Zürcher Wirtschaft folgende Artikel: «Die Milieus des Mittelstands im Wandel» «Bildungspolitik ist Mittelstandspolitik»