Manche gesetzliche Vorschriften lauten für öffentlich-rechtliche und privat-rechtliche Vorsorgeeinrichtungen anders. Diese unterschiedliche Behandlung erhöht die Komplexität der beruflichen Vorsorge und schafft zusätzliche Intransparenz. Versicherte in privat-rechtlichen Pensionskassen fühlen sich dadurch häufig ungerecht behandelt, was die Akzeptanz der zweiten Säule zusätzlich unterminiert.
So müssen zum Beispiel privat-rechtliche Pensionskassen in Unterdeckung Sanierungsmassnahmen ergreifen, damit sie innert 5 bis 7 Jahren wieder einen Deckungsgrad von 100% erreichen. Lebensversicherer dürfen sogar zu keinem Zeitpunkt die 100%-Marke unterschreiten. Anders sieht es für öffentlich-rechtliche Pensionskassen, also Vorsorgeeinrichtungen der öffentlichen Hand, aus. Gemäss der BVG-Revision vom Dezember 2010 hängen die an sie gestellten Anforderungen von Entscheiden ab, die der Staat bis Ende 2013 treffen muss:
- Entweder spricht sich der Staat für eine «Vollkapitalisierung» seiner Vorsorgeeinrichtungen aus. In diesem Fall hätten Kassen in Unterdeckung bis in spätestens zehn Jahren einen Deckungsgrad von 100% aufzuweisen.
- Oder die öffentlichen Pensionskassen erhalten eine Staatsgarantie. Bei dieser «Teilkapitalisierung» müssten die Pensionskassen ihre finanzielle Situation über einen Zeitraum von 40 Jahren, also bis 2052, wieder ins Lot bringen. Bis dann wäre lediglich ein Deckungsgrad von mindestens 80% gefordert.
Das System der Teilkapitalisierung im BVG ist stossend. Eine Teilkapitalisierung – oder Dauerunterdeckung – bedeutet nichts anderes, als dass laufende und heute versprochene Renten nicht mit genügend Kapital unterlegt sind. Die fehlenden Mittel sind beträchtlich und betragen schätzungsweise 50 Mrd. Fr. Sie werden über Steuergelder (innerhalb der gleichen Generation) oder über Schulden (Übertragung der Kosten auf kommende Generationen) finanziert. In beiden Fällen sind das Umverteilungen, die in der beruflichen Vorsorge, wo jeder für seine eigene Vorsorge sparen soll, systemfremd sind. Das Problem ist vor allem in der Westschweiz ausgeprägt (Abbildung). Die Ursachen dafür sind politischer Natur.
Aufgabenkatalog und Einzugsgebiet des Staates können sich ändern
Befürworter der unterschiedlichen Behandlung privat- und öffentlich-rechtlicher Pensionskassen begründen ihre Haltung wie folgt: Privatrechtliche Vorsorgeeinrichtungen laufen Gefahr, dass die angeschlossenen Arbeitgeber ihre Aktivitäten einstellen könnten (Konkurs, Fusionen, Verlagerung ins Ausland). Deshalb müsse jederzeit gewährleistet werden, dass die laufenden und versprochenen Renten trotz Einstellung des Betriebs sichergestellt sind. Dies verlange einen Deckungsgrad von 100%. Anders sehe es bei öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen aus, da der Staat auch in hundert Jahren da sein wird. Deshalb werde es immer Arbeitgeber (den Staat), Arbeitnehmer (die Beamten) und Steuerzahler geben, die die Finanzierung der Renten garantieren können. Eine Unterdeckung sei also vertretbar.
Diese Argumentation greift jedoch zu kurz. Auch wenn der Staat nicht verschwinden wird, wird er seine Aufgaben laufend an neue gesellschaftliche Entwicklungen anpassen müssen. So wurden in der jüngsten Vergangenheit wichtige Sektoren der Verwaltung wie die SBB, die Post und Swisscom, verselbständigt und privat-rechtlich organisiert. Die Pensionskasse dieser Betriebe war zur Zeit der Ausgliederung in Unterdeckung, ein Hinausschieben dieser impliziten Schulden nicht mehr möglich. Der Bund musste plötzlich 21 Mrd. Fr. für die Ausfinanzierung dieser Vorsorgeeinrichtungen mobilisieren. Diese zwei Fälle sind zwar in ihrer Grössenordnung extrem. Ähnliches kann sich aber auch auf der Ebene der Kantone und Gemeinden ereignen. Man denke zum Beispiel an die Privatisierung von Spitälern oder von städtischen Elektrizitätswerken.
Nebst dem Aufgabenkatalog der staatlichen Körperschaften ist auch ihr Einzugsgebiet nicht statisch. Laut einer Studie von Avenir Suisse haben seit 2000 über 600 Gemeinden fusioniert. Dabei können unterschiedliche Deckungsgrade der Gemeinde-Pensionskassen die Kosten einer Fusion massiv beeinflussen. Die Frage, wer diese Ausfinanzierungskosten trägt – die Bürger der einzelnen Gemeinden vor der Fusion oder die Bürger beider Gemeinden nach der Fusion – kann ein Fusionsvorhaben zum Scheitern bringen.
Das Argument der Dauerhaftigkeit staatlicher Institutionen ist also nicht stichhaltig. Die Sanierung öffentlich-rechtlicher Pensionskassen hat deshalb hohe Priorität, auch wenn es in Anbetracht der Kosten von 50 Mrd. Fr. lange Übergangsfristen braucht. Innerhalb der geltenden gesetzlichen Bestimmungen sollte die Vollkapitalisierung unter Verzicht auf die Staatsgarantie angestrebt werden. Mittelfristig muss jedoch die im Dezember 2010 verabschiedete Revision des BVG korrigiert und die Sonderbehandlung öffentlich-rechtlicher Körperschaften, vor allem die Zulassung einer Teilkapitalisierung, aufgehoben werden.
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