Die Kritik am Bruttoinlandprodukt (BIP) als Massstab des Wohlstandes und erst recht der Wohlfahrt gehörte schon vor Jahrzehnten zum Standard der volkswirtschaftlichen Ausbildung. Trotzdem, trotz aller Versuche, etwa ein Bruttoglücksprodukt zu berechnen, gibt es bis heute keinen valablen Ersatz für diese Kennzahl. Immerhin lohnt es sich aber, sich bewusst zu machen, was das BIP misst und was nicht. Das soll die wirtschaftspolitische Grafik dieses Monats mit Blick auf einen besonders wichtigen Aspekt, die unbezahlte Arbeit nämlich, illustrieren.
Die «vergessenen» 40 Prozent
Zum Ersten zeigt sie, dass das offiziell ausgewiesene BIP nicht, wie man gerne formuliert, die gesamte Wertschöpfung eines Landes abbildet, sondern nur jenen Teil davon, bei dem Geld fliesst. Das waren in der Schweiz 2010 nur gut 60% der Gesamtproduktion. Fast 40% entfielen auf unbezahlte Arbeit, die selbstverständlich nicht weniger zu unserem Wohlstand beiträgt als alles, was im Markt an Arbeit geleistet wird. Der gute Braten am Esstisch zu Hause dürfte in Sachen kulinarischer Genuss, Gesundheit der Ernährung und Ambiente einiges mehr bieten als das Fast-food vom Imbissstand. Der Braten findet aber im BIP im Wesentlichen nur mit den Kosten der Zutaten einen Niederschlag. Und jede Kinderbetreuung durch die Grosseltern oder die Altenpflege durch Angehörige sind auch Wohlstand, werden aber im BIP ebenfalls kaum erfasst.
In Tat und Wahrheit sind Schweizer also um einiges reicher, als es in den offiziellen BIP-Zahlen zum Ausdruck kommt. Und dabei ist der emotionale Aspekt etwa der Pflege durch den Partner in den gewohnten vier Wänden statt durch entlöhntes Personal in einem Heim noch gar nicht berücksichtigt. Der nichtmarktliche Teil der Gesamtproduktion verzerrt auch internationale Vergleiche. Nicht zuletzt in den meisten Entwicklungsländern wird ein viel höherer Anteil als in der Schweiz ausserhalb des Marktes produziert. Menschen in Entwicklungsländern werden durch die Nichtberücksichtigung dieses Teils der Gesamtproduktion in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung künstlich arm gerechnet.
Anders gerichtete Effekte
Zum Zweiten zeigt ein Vergleich etwa zwischen 1997 und 2010, dass es eine Wachstumsillusion gibt. Das offizielle BIP wuchs in dieser Zeitspanne real um 28,2%. Ein Teil davon hat aber damit zu tun, dass der Anteil der unbezahlten Arbeit gesunken ist. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte die zunehmende Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt sein. Bringt man das Kind in die Krippe, statt es zu Hause zu betreuen, geht man ins Restaurant, statt zu Hause zu kochen, lässt man waschen oder putzen, statt es selbst zu tun, geht die unbezahlte Arbeit zurück, das BIP wächst im entsprechenden Umfang.
Ein beliebtes Lehrbuchbeispiel war früher, dass das BIP schrumpft, wenn ein Mann seine Haushälterin heiratet und diese sich weiterhin um den Haushalt kümmert. Nun findet dank der Emanzipation der Frauen das Umgekehrte statt, das heisst ein Outsourcing von Aufgaben, die früher «inhouse» erledigt wurden. Wäre der Anteil der unbezahlten Arbeit heute immer noch gleich wie 1997, hätte das BIP-Wachstum daher lediglich 20,9% betragen. Ein Viertel des Wachstums (mehr als 7 Prozentpunkte) war also unecht bzw. rein statistischer Natur. Die Integration der Frauen in die monetäre Wirtschaft hat somit einen doppelten Wachstumseffekt, einen tatsächlichen dank ihrem Wachstumsbeitrag sowie dank der Diversität und den spezifischen Fähigkeiten, die sie bringen, und einen bloss statistischen Effekt durch die Verlagerung von unbezahlter zu bezahlter Arbeit.
Zum Dritten entfällt rund ein Zehntel des Wertes der unbezahlten Arbeit auf sogenannte Freiwilligenarbeit. Darunter versteht man die institutionalisierte Tätigkeit im Rahmen von Vereinen und anderen Organisationen (einschliesslich der Übernahme von Ehrenämtern) sowie die informelle unbezahlte, freiwillige Tätigkeit für andere Haushalte in Form von Nachbarschaftshilfe, Kinderbetreuung und Weiterem. Beide Arten der Freiwilligenarbeit sind in der Schweiz stark verbreitet, aber sie haben in Deutschland und Österreich ein noch grösseres Gewicht.
Ein weiterer «Röstigraben»
Gemäss Angaben des Bundesamtes für Statistik (BfS) leistet ziemlich genau ein Drittel der Wohnbevölkerung über 15 Jahre Freiwilligenarbeit, wobei der Zeitaufwand für unbezahlte Arbeit in Organisationen und Vereinen mit durchschnittlich 15,5 Std. monatlich etwas höher ist als jener für alle Formen von Hilfe aus rein persönlicher Initiative (fast 14 Std.). Das Gesamtvolumen der Freiwilligenarbeit wird für 2010 auf 640 Mio. Std. geschätzt, während beispielsweise die bezahlte Arbeit im gesamten Sozial- und Gesundheitswesen etwas über 750 Mio. Std. ausmachte.
Kaum überraschend, sind die regionalen Unterschiede gross. Die an Deutschland und Österreich angrenzenden Gebiete sowie die Zentralschweiz weisen überdurchschnittliche Beteiligungsquoten auf, zumal im institutionalisierten Bereich, das Tessin und die Romandie unterdurchschnittliche. Der Grossteil der Differenz geht auf das unterschiedliche Engagement in Sportvereinen zurück. Auf den ersten Blick eher kontraintuitiv ist dagegen die Beobachtung, dass nicht in erster Linie Gruppen, die über relativ viel freie Zeit verfügen, institutionalisierte Freiwilligenarbeit leisten, sondern Personen in der Mitte des aktiven Lebens, oft mit höherem Bildungsabschluss, die gesellschaftlich gut integriert sind.
Dabei sind die Männer stärker engagiert als die Frauen. Bei der informellen Freiwilligenarbeit ist es gerade umgekehrt. Hier dominieren Haus- und Familienfrauen sowie jüngere Rentnerinnen. Allerdings nimmt auch bei Männern die informelle Freiwilligenarbeit ab dem Pensionierungsalter deutlich zu.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. September 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.