Ernährung gehört wie der Zugang zu Wasser und Energie zu den existenziellen Bedürfnissen des Menschen. Die öffentliche Diskussion wird immer dann intensiv, sobald Veränderungen bestehende Strukturen in Frage stellen oder gar die Versorgung zu gefährden drohen. Der Schweizer Bauernverband weiss diese Klaviatur der Bevölkerungsängste zu spielen und lancierte deshalb die Initiative «Für Ernährungssicherheit». Das Hauptziel war, den Bund zu «wirksamen Massnahmen» zu verpflichten, um «Lebensmittel aus vielfältiger und nachhaltiger einheimischer Produktion» zu fördern.
Liberaler Gegenvorschlag?
Anfänglich konnten sich die Interessenvertreter der Agrarindustrie im politischen Prozess wunschgemäss durchsetzen: Im Frühjahr 2016 sprach sich der Nationalrat für die Volksinitiative aus. Ende 2016 aber scheiterte die Vorlage am Ständerat – zumindest teilweise. Der Initiative wurde ein eigener Entwurf der kleinen Kammer entgegengestellt, der auch eine Mehrheit in beiden Räten fand. Das Initiativkomitee zog daraufhin – obwohl in den eigenen Reihen umstritten – seinen Vorschlag zurück.
Der Gegenvorschlag des Parlaments, der nun am 24. September zur Abstimmung kommt, ist stringenter und weniger protektionistisch formuliert als die Originalfassung des Bauernverbandes. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln soll nicht nur mit inländischer landwirtschaftlicher Produktion sichergestellt werden, sondern auch über grenzüberschreitende Handelsbeziehungen sowie einen ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln. Es ist sogar von einer auf den Markt ausgerichteten Land- und Ernährungswirtschaft die Rede. Alles Gründe also, auf einen liberalen Fortschritt der Landwirtschaftspolitik zu hoffen und dem Verfassungsartikel zuzustimmen?
Tatsächlich könnte der Text so interpretiert werden: Erstens also mehr Öffnung – die Schweiz gehört weltweit zu den Ländern mit der höchsten Abschottung des Agrarmarktes gegenüber dem Ausland. Zweitens mehr Markt – der Anteil des bäuerlichen Einkommens aus Transfers des Steuerzahlers ist in der Schweiz mit rund 62% am höchsten, Neuseeland im Vergleich – ein Land mit ähnlichen Voraussetzungen wie die Schweiz – kommt auf weniger als 1%.
Oder doch reine Weiterführung der bisherigen Agrarpolitik?
Wird also mit dem neuen Verfassungsartikel eine grundsätzliche Wende in der Schweizer Landwirtschaftspolitik eingeläutet?
Im Rahmen der Debatten im Nationalrat wurde klar: an der Lage sollte sich mit dem neuen Verfassungsartikel 104a nicht viel ändern. Auch der zuständige Bundesrat versicherte, man werde auch mit dem neuen Artikel «auf dem mit der bisherigen Agrarpolitik eingeschlagenen Weg weitergehen».
Es sollte also zu keiner radikalen Anpassung des Gesetzes kommen, falls der Artikel angenommen wird. Wäre dies der Fall, dann ist die Notwendigkeit für eine neue Verfassungsbestimmung zu hinterfragen.
Problematischer Interpretationsspielraum
Auch wenn sich nicht viel an der Lage ändert bleibt das Risiko, dass eine Annahme des Bundesbeschlusses über die Ernährungssicherheit als Bestätigung für die Weiterführung der aktuellen Landwirtschaftspolitik interpretiert und von den Interessenvertretern der Agrarindustrie als Erfolg zelebriert wird.
Sorgen bereiten muss insbesondere, dass bei einer Annahme des Verfassungstextes es zu einem Ausbau der bisherigen Landwirtschaftspolitik führen kann, sprich zu mehr Bürokratie. Dies würde die unternehmerische Freiheit der bereits unter übermässiger behördlicher Vorschriftendichte leidenden Bauern weiter einschränken. Die Vorlage gibt dem Parlament ein Instrument in die Hand, um auch in Zukunft weitreichende Forderungen zugunsten der Agrarindustrie zu stellen. Bei der Diskussion um die Deutungshoheit des Volkswillens haben die liberalen Kräfte traditionsgemäss einen schweren Stand.
Liberal-marktwirtschaftliche Auslegung notwendig
Unser Land bleibt aber nach wie vor auf Importe angewiesen. Wie dies auch Bundesrat Schneider-Ammann als Schweizer Agrarminister feststellte: «Ernährungssicherheit gibt es nur mit Freihandel». Die dringend notwendige Öffnung des Agrarmarktes käme nicht zuletzt deutlich den Schweizer Konsumenten mit kostengünstigeren Nahrungsmitteln zu Gute.
Auf dem aussenwirtschaftlichen Parkett manövriert aber die Schweiz zusehends in eine schwierige Situation. Der Handlungsspielraum der Schweizer Handelsdiplomaten wird empfindlich geschmälert durch Agrarinteressen, die agrartarifarische Zugeständnisse zu verhindern wissen. Der Abschluss neuer Freihandelsabkommen wird dadurch deutlich erschwert. Anstelle sich auf den neuen Verfassungsartikel zu fokussieren, der erst noch je nach Interpretation unterschiedlich ausgelegt wird, sollte in unserem Land vielmehr eine Debatte um eine grundsätzliche marktwirtschaftlich-liberale Erneuerung der Schweizer Agrarpolitik geführt werden.
Dieser Artikel ist in französischer Sprache in der Zeitschrift «Terre & Nature» vom 31. August erschienen.