Wächst die Schweizer Volkswirtschaft, weil wir mehr arbeiten, oder weil wir produktiver arbeiten? Diese Frage ist besonders im Zusammenhang mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU von Bedeutung. Denn jüngst wurde immer wieder behauptet, nicht zuletzt auch von Gelehrten, in der Schweiz nehme das Bruttoinlandprodukt (BIP) nur deshalb zu, weil mit der starken Zuwanderung der Arbeitseinsatz (die Zahl der Erwerbstätigen und die geleisteten Arbeitsstunden) steige, nicht aber die Produktivität des Arbeitseinsatzes. Als Folge davon nehme der Wohlstand pro Kopf der Bevölkerung nicht zu, weil die zusätzlich erzielte Wertschöpfung mit immer mehr Leuten geteilt werden müsse. Die Behauptung lautet mithin, dass infolge eines laufend steigenden Faktoreinsatzes zwar der gesamte Kuchen grösser werde, nicht aber die einzelnen Kuchenstücke. Ein solches Wachstumsregime wäre weder sehr sinnvoll, noch nachhaltig, weil es allein darauf beruht, dass immer mehr Arbeitskräfte zuwandern.
Höchste Zuwächse in der Nachkriegszeit
Diese Behauptung lässt sich empirisch überprüfen. Das Wachstum des Einkommens pro Kopf der Bevölkerung (BIP/Pop) kann als Summe des Wachstums der Arbeitsproduktivität (hier als Stundenproduktivität: BIP/h) und des Arbeitseinsatzes (Arbeitsstunden pro Kopf der Bevölkerung: h/Pop) dargestellt werden. Letzterer wiederum kann zerlegt werden in das Wachstum der geleisteten Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem (h/ ET) einerseits und das Wachstum der Anzahl Erwerbstätiger über die gesamte Bevölkerung (Erwerbsbeteiligung: ET/ Pop) anderseits. Die Zerlegung erlaubt eine Antwort auf die Frage, ob der Wohlstand in der Schweiz steigt, weil wir «besser» oder weil wir «mehr» arbeiten. In der Grafik wird der derart zerlegte Wohlstandszuwachs für jede Dekade zwischen 1950 und 2010 gezeigt.
Dabei wird deutlich, dass der Wohlstandszuwachs sich über den gesamten Zeithorizont stark verlangsamt hat. Nahm das BIP pro Kopf der Bevölkerung in den 1950er und 1960er Jahren noch um jährlich durchschnittlich über 3% zu, waren es von 2000 bis 2010 nur noch 0,8%. Ebenfalls deutlich wird, dass das Wohlstandswachstum in erster Linie durch den Zuwachs der Arbeitsproduktivität (BIP/h) getrieben wird. Der Arbeitseinsatz wird also laufend produktiver und effizienter.
Weniger Arbeitsstunden, aber mehr Arbeitnehmer
Demgegenüber leistet der Zuwachs des eingesetzten Arbeitsvolumens nur einen vergleichsweise geringen Wachstumsbeitrag. Die pro Erwerbstätigen geleisteten Arbeitsstunden haben über alle Dekaden laufend abgenommen, mit jährlich minus 0,9% am stärksten in den 1970er Jahren. Teilweise kompensiert wird diese Abnahme durch einen Zuwachs der Erwerbsbeteiligung. Ausgeprägt war dies in den 1980ern der Fall, als die Generation der Babyboomer in den Arbeitsmarkt eintrat und sich die weibliche Erwerbsbeteiligung stark ausweitete (+1,3%).
Interessant ist zu sehen, dass in der letzten Dekade zwischen 2000 und 2010, also seit der Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU, das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung beinahe im Gleichschritt mit der Arbeitsproduktivität gestiegen ist, während das Wachstum der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem und jenes der Erwerbsbeteiligung sich gegenseitig fast vollständig neutralisiert haben.
Seit Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU im Jahr 2002 ist der Wohlstand ausgedrückt als BIP pro Kopf der Bevölkerung gewachsen, mit 0,8% jährlich sogar doppelt so schnell als im Jahrzehnt davor. Dieses Wachstum wurde weniger durch eine simple Steigerung des Arbeitseinsatzes erzielt, als vielmehr durch eine Erhöhung der Produktivität.