Im Gespräch mit Peter Eisenhut erklärt Jürg Müller, inwiefern eine marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaft gegenüber anderen Wirtschaftssystemen im Vorteil ist. Allfällig festgestellte Marktversagen gelte es mit Augenmass zu korrigieren.

Peter Eisenhut: Herr Müller, welches sind für Sie die wichtigsten Vorteile eines marktwirtschaftlichen Systems?

Jürg Müller: Eine Marktwirtschaft hat zwei grosse Vorteile. Ökonomisch stellt sie ein hervorragendes Koordinations-Design dar. Dieses ist grundsätzlich fähig, Wissen, Fähigkeiten und Präferenzen, die über Individuen und sogar Länder hinweg verteilt sind, effizient zu einem grossen Ganzen zu verschmelzen. Dabei erlauben die Preise, diese dezentralen Elemente abzubilden und in der Folge optimal zu koordinieren.

Der zweite Vorteil ist gesellschaftlicher Natur: Das marktwirtschaftliche System ist Grundbedingung für eine demokratische, freie und offene Gesellschaft. Adam Smith, der «Entdecker der unsichtbaren Hand», war in erster Linie ein Moralphilosoph und nicht Ökonom. Er zeigte auf, dass der Wohlstand einer Gesellschaft maximiert werden kann, wenn Menschen frei interagieren. Damit brachte Smith das Projekt der Aufklärung ein grosses Stück voran.

Freiheit für alle geht mit einem zentralen Prinzip eines marktwirtschaftlichen Systems einher: dem Wettbewerb. Wettbewerbskräfte stehen nicht nur hinter Innovationen und Effizienz, sondern sie halten auch autoritäre Machtansprüche in Schach. Der deutsche Ökonom und Vertreter des Ordoliberalismus, Franz Böhm, hat zu Recht festgehalten, der Wettbewerb sei «das grossartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte».

Hat ein marktwirtschaftliches System auch Nachteile bzw. Gefahren?

Einerseits sorgt ein marktwirtschaftliches System zwar für eine effiziente Allokation von Ressourcen, aber es ist «blind» gegenüber normativen Verteilungsfragen – diese müssen entsprechend in einem politischen Prozess beantwortet werden. Anderseits gibt es Situationen, in denen das marktwirtschaftliche System Ressourcen nicht effizient alloziert. In der Ökonomie spricht man von Marktversagen. Das kann gemeinhin aus vier Gründen passieren: bei Vorliegen externer Effekte, bei öffentlichen Gütern, bei asymmetrischen Informationen oder bei Marktmacht. In all diesen Fällen kann ein Eingriff in die Marktwirtschaft die Situation verbessern – «kann» deshalb, weil es nicht nur zu Marktversagen kommen kann, sondern auch zu Staatsversagen.

Für einen liberalen Ökonomen ist es klar, dass es in einem Staat Regeln braucht. In welchen wichtigsten Bereichen empfinden Sie die Staatseingriffe aber als überbordend?

Erstens überall dort, wo nicht ein Marktversagen adressiert wird. Darunter fallen Eingriffe, die den Menschen vor sich selbst schützen sollen und damit auf ein als «richtig» erachtetes Verhalten mündiger Erwachsener abzielen – historische Beispiele sind das Konkubinatsverbot oder ein Verbot homosexueller Handlungen. Zweitens finden sich überbordende Regeln dort, wo auf denkbar ungeeignete Art und Weise auf ein Marktversagen reagiert wird. Ein konkretes Beispiel findet sich etwa beim Datenschutz. So klicken wir momentan unzählige Cookie-Meldungen jeden Tag weg. Damit ist niemandem gedient – insbesondere nicht dem ursprünglichen und legitimen Ziel: dem Datenschutz.

Kohlekraftwerke und Windkrafwerke, überlagert von einer Statistikkurve, die auf einer hohen Stufe endet.

Auch im Umwelt- und Klimabereich sollte man wenn immer möglich auf Wettbewerbskräfte setzen, um allfällige Probleme effektiv und effizient anzugehen. (Adobe Stock)

Die aktuellen Forderungen nach zusätzlichen klimapolitischen Massnahmen umfassen oft weitreichende staatliche Eingriffe ins marktwirtschaftliche System. Hat das Modell der Marktwirtschaft im Umwelt- und Klimabereich versagt?

Jein. Wie erwähnt, kann es zu Marktversagen kommen. Gerade im Umwelt- und Klimabereich stossen die marktwirtschaftlichen Mechanismen gelegentlich an Grenzen. Allerdings sollte man nun nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Auch im Umwelt- und Klimabereich sollte man wenn immer möglich auf Wettbewerbskräfte setzen, um allfällige Probleme effektiv und effizient anzugehen. Das passiert in der Realität kaum je, obwohl Ökonomen die entsprechenden Instrumente schon vor langer Zeit entwickelt haben. Erschwerend kommt hinzu, dass es im Bereich Klimaschutz globale Lösungen braucht, die internationale Politik sich mit einer solchen Koordination aber enorm schwertut. Das hat nichts mit einem Versagen des marktwirtschaftlichen Systems zu tun, vielmehr spielt bei der Bewältigung der Probleme Staatsversagen eine überragende Rolle.

In der internationalen Wirtschaftspolitik erleben marktbehindernde Eingriffe wie Subventionen, Export- und Importkotrollen usw. eine Renaissance. Inwieweit kann, muss und soll sich die Schweiz dem internationalen Subventionswettlauf entziehen?

Die Schweiz kann und soll sich dem Subventionswettlauf entziehen. Erstens sind die Kosten solcher Eingriffe hoch. Wenn die Politik einzelne Firmen und Branchen begünstigt, belastet das die Steuerzahler durch höhere Staatsausgaben sowie langfristig auch die Konsumenten durch einen verzerrten Wettbewerb mit höheren Preisen. Zweitens bremsen derartige punktuelle Eingriffe Innovationen aus, denn die geförderten Branchen und Firmen richten dann ihre Geschäftstätigkeiten nach staatlichen Subventionsvorgaben aus. Langfristig unterminiert eine solche Politik damit sogar ihre eigene Zielsetzung, indem sie die Wettbewerbsfähigkeit vermindert. Historische Beispiele für diesen kontraintuitiven Effekt gibt es auch in der Schweiz viele: So wurde zum Beispiel die Schweizer Uhrenindustrie im 20. Jahrhunderts fast zu Tode gefördert.

Dieses leicht gekürzte und redigierte Interview von Jürg Müller ist in der neusten Ausgabe des Buches «Aktuelle Volkswirtschaftslehre 2024/2025» von Peter Eisenhut und Jan-Egbert Sturm erschienen (Somedia Buchverlag).