Trotz stark reduzierter Arbeitslosigkeit herrscht in Deutschland noch immer Unterbeschäftigung. Würden die Deutschen so viel arbeiten wie die Schweizer, stünden der deutschen Wirtschaft fast 12 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte zur Verfügung.
Der deutsche Arbeitsmarkt ist auf Erfolgskurs: Die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 20 Jahren, die höchste Erwerbstätigenzahl seit der Wiedervereinigung, die ersten Reallohnsteigerungen seit langem. Die Situation am deutschen Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jahren dramatisch verbessert. Seit ihrem Höhepunkt 2005 ist die Arbeitslosigkeit von 5 Millionen auf unter 3 Millionen gefallen. Das ungenutzte Arbeitskräftereservoir ist jedoch nach wie vor gewaltig, wie ein Vergleich mit der Schweiz zeigt.
Brachliegendes Potenzial
Deutschland hat eine mehr als doppelt so hohe Arbeitslosenquote wie die Schweiz (7,0% statt 2,8%) sowie deutlich geringere Erwerbsquoten bei Frauen (65% vs. 74%) und bei älteren Personen (56% vs. 68%). Der Eintritt in die Berufsbildung – und somit ins Arbeitsleben – erfolgt in Deutschland vier Jahre später als in der Schweiz. In der Summe ergibt sich eine Erwerbsquote, die über ein Zehntel niedriger ist, nämlich 70% statt der schweizerischen 79%. Hätte Deutschland eine Quote wie das Nachbarland, wären 2009 nicht 40,3 sondern 45,3 Millionen Personen erwerbstätig gewesen, es stünden 5 Millionen Personen zusätzlich in Lohn und Brot.
Um dieses Potential zu heben, bedarf es mehr als klassischer Massnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen liesse sich durch eine Reform des Ehegattensplittings steigern. Das Eintrittsalter ins Berufsleben wird in den nächsten Jahren durch die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre und der Studiendauer, die bessere Verfügbarkeit von Ausbildungsplätzen und die Aussetzung der Wehrpflicht reduziert. Die Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 und die Beseitigung von Anreizen zur Frühverrentung werden die Erwerbsquote bei Älteren erhöhen.
Schweizer Erwerbstätige arbeiten 15 Prozent mehr
Auch bei den gearbeiteten Stunden pro Erwerbstätigem gibt es Reserven. Deutschland kennt überdurchschnittlich viele Urlaubs- und Feiertage und vergleichsweise geringe Wochenarbeitszeiten. Ausserdem gibt es viele Teilzeitbeschäftigte, die gerne mehr arbeiten würden. Aufgrund dieser Faktoren arbeitet der Schweizer Erwerbstätige im Durchschnitt mit 1640 Stunden im Jahr etwa 15% mehr als der deutsche Arbeitnehmer mit 1430 Stunden. Würden also die deutschen Erwerbstätigen (40,3 + 5 Millionen) so viel arbeiten wie ihre Schweizer Kollegen, entspräche dies einem zusätzlichen Arbeitsvolumen von weiteren 6,7 Millionen Erwerbstätigen.
Zusammen ergäbe die Anhebung der Erwerbsquote und der Arbeitszeit in Deutschland auf Schweizer Niveau ein zusätzliches Arbeitsvolumen, das knapp 12 Millionen Arbeitskräften entspräche. Dies ist zwar nur eine grobe Überschlagrechnung, aber viele wirtschaftlichen Probleme Deutschlands sind im Kern auf die dramatische Unterbeschäftigung zurückzuführen: Massenarbeitslosigkeit, hohe Abgaben- und Steuerlast, stagnierende Reallöhne, geringe Konsumnachfrage, unterdurchschnittliches Wachstum und marode Staatshaushalte.
Auch eine Folge der Wiedervereinigung
Gewiss ist die geringe Beschäftigungsquote in Deutschland einerseits eine Folge der Wiedervereinigung. Damals standen 17 Millionen Ostdeutsche über Nacht mit einem völlig abgeschriebenen Kapitalstock und entwertetem Humankapital da. Dies entspricht der Gesamtbevölkerung der Schweiz und Österreichs zusammengenommen. Die Unterbeschäftigung ist aber anderseits auch eine Folge rigider Arbeitsmärkte sowie negativer Arbeitsanreize durch hohe Lohnnebenkosten und Sozialleistungen.
Somit bietet das aktuelle Jobwunder auch die Chance, viele dieser Probleme anzugehen. Erstmals gibt es nun wieder Chancen auf Vollbeschäftigung, unter anderem dank der Reform der Sozialsysteme (Agenda 2010), des Umbaus der Bundesagentur für Arbeit, der Einführung flexibler Beschäftigungsmodelle, Jahren der Lohnzurückhaltung und international erfolgreicher deutscher Firmen.
Wenn es gelänge, das brachliegende Arbeitskräftereservoir zu mobilisieren, wäre eine massive Steigerung des Wohlstands möglich. Zwar steht die Schweiz unter den OECD-Ländern punkto Arbeitskräftemobilisierung ziemlich alleine da, aber sie zeigt, was möglich ist. Ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihr Wohlstand verdanken sich in hohem Masse Rahmenbedingungen, die die Erwerbstätigkeit fördern. Dazu zählen flexible Arbeitsmärkte, niedrige Steuern, schlanke Sozialsysteme, ein gutes Bildungssystem und die gute alte Tugend Fleiss. Die Schweiz hat eine niedrigere Arbeitsproduktivität als Deutschland, aber sie überkompensiert dies durch einen hohen Arbeitskräfteeinsatz. Der Werbespruch für das Schweizer Malzkakaopulver Ovomaltine gilt so gesehen auch auf volkswirtschaftlicher Ebene: «Mit Ovo kannst Du’s nicht besser, aber länger.»
Dieser Artikel ist die Aktualisierung eines am 16. Februar 2011 in der
«Financial Times Deutschland» publizierten Beitrags. Aus Anlass des bevorstehenden
Zermatter Symposiums wurde er hier nochmals veröffentlicht.