«Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen». Diese lakonische Aussage wird wahlweise Mark Twain, Winston Churchill, Niels Bohr – und somit Menschen unterschiedlichster Metiers – zugeschrieben.
Mit Prognosen ist es in der Tat so eine Sache:
- Am öftesten über falsche Prognosen gejammert wird vermutlich beim Wetter – obwohl dieses Metier von allen wohl am «ehrlichsten» bei der Prognostiziererei ist: Dank komplexer Wettermodelle und immer grösserer Rechenleistung lassen sich Umschwünge in diesem chaotischen System immerhin schon für bis zu 7 Tage einigermassen zuverlässig voraussagen, und wo Unsicherheit bezüglich der künftigen Entwicklung besteht, wird üblicherweise darauf hingewiesen.
- In anderen Bereichen wird hingegen munter und mit grossem Aufwand prognostiziert, ohne dass Fehlprognosen den Urhebern irgendwie angelastet würden. Wirtschaftsprognosen werden feinsäuberlich vierteljährlich publiziert und dienen vielen Akteuren als Entscheidungshilfe. Rückblickend betrachtet haben sie sich aber, zumindest in Bezug auf alle entscheidenden Veränderungen, fast immer als falsch erwiesen – schlicht und einfach weil es nur möglich ist, schon sichtbare Entwicklungen in die Zukunft fortzuzeichnen. Disruptive Änderungen aber sind grundsätzlich unvorhersehbar.
- Gar blanker Unsinn sind Prognosen zur Entwicklung von Aktienkursen: Der aktuelle Aktienkurs eines Unternehmens beinhaltet schon alle Erwartungen der Marktteilnehmer an künftige Entwicklungen. Die Voraussage einer Veränderung des Aktienkurses bedeutet also, dass man eine Veränderung der Erwartungen erwartet, was ein Widerspruch in sich ist .
Die Bevölkerungsprognosen des BfS
Als einigermassen zuverlässig gelten Bevölkerungsprognosen. Vor zwei Wochen hat das Bundesamt für Statistik seine neuesten Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz publiziert. Gemäss dem Referenzszenario wird die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz Ende 2023 die 9-Millionen-Grenze und 2039 die 10-Millionen-Grenze überschreiten (vgl. schwarze Linie in der Grafik). Während in Deutschland die Einwohnerzahl schon heute rückläufig ist, soll sie in der Schweiz – in erster Linie wegen der Zuwanderung – bis weit in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts steigen. Das Maximum wird bei ca. 10,5 Millionen Einwohnern vorausgesagt – ab dann soll also das Geburtendefizit (Sterbefälle – Geburten) die Nettoeinwanderung überwiegen. Neben diesem Referenzszenario wird ein hohes und ein tiefes Szenario publiziert – sozusagen als obere und untere Schranke der vorstellbaren Entwicklung. Innerhalb dieses «Vertrauensintervalls» sollte die künftige Entwicklung also mit hoher Wahrscheinlichkeit liegen.
Ein Blick auf die früheren Bevölkerungsprognosen (vgl. Grafik) entlarvt jedoch schnell die trügerische Sicherheit, die solche Voraussagen vermitteln:
- Im Jahr 2000 lautete die Prognose, die höchste Einwohnerzahl werde im Jahr 2028 mit 7,42 Mio. erreicht. Gemäss tiefen Szenario sollte die Bevölkerung bis 2060 sogar auf 5,64 Mio. schrumpfen, gemäss hohem sollte immerhin im Jahr 2042 die heutige (Juli 2015) Zahl von 8,28 Mio. Einwohnern erreicht werden.
- 2005 sah das mittlere Szenario den Bevölkerungspeak für das Jahr 2036 mit 8,16 Mio. Einwohnern voraus. Schon heute liegt die Entwicklung deutlich oberhalb des Vertrauensintervalls dieser erst 10 Jahre alten Prognose. Noch bemerkenswerter ist, dass für die nächsten Jahrzehnte das komplette Vertrauensintervall der 2015-Szenarien ausserhalb des Vertrauensintervalls der 2005er-Szenarien liegt.
- Für 2010 wurden die Bevölkerungsprognosen abermals deutlich nach oben korrigiert.
- Die grösste Anpassung, abermals nach oben, fand allerdings 2015 statt. Die mittlere Prognose von 2010 liegt deutlich unterhalb des neuen Vertrauensintervalls von 2015, das obere Ende des Vertrauensintervalls von 2010 entspricht bis 2035 exakt dem aktuellen Referenzszenario.
Dass Prognosen den aktuellen Geschehnissen angepasst werden, liegt auf der Hand und kann nicht Anlass zu Kritik sein. Problematisch wird es, wenn sie sich, wie in diesem Beispiel, zu stark an den Entwicklungen in der jüngsten Vergangenheit orientieren, denn damit rennen sie sozusagen ständig nur der Realität hinterher, tendieren zu Überkorrekturen und führen oft in die Irre.
Unsicherheitsfaktor Zuwanderung
Der grosse Unsicherheitsfaktor bei Bevölkerungsprognosen für ein kleineres Land wie die Schweiz liegt in erster Linie bei der Zuwanderung. Auch die Entwicklung von Geburten- und Sterbeziffern kann zwar nicht exakt vorausgesagt werden, aber grosse Sprünge sind dort auszuschliessen und kleinere Veränderungen brauchen Jahrzehnte, bis sie sich in den Bevölkerungszahlen niederschlagen. Die Zuwanderung kann hingegen nur schon innerhalb eines Jahrzehnts stark schwanken und ist kaum voraussagbar. Doch genau das ignoriert der Bund in seinen Szenarien:
- In der 2000er Prognose wurde als vorstellbare Bandbreite für die künftige Migration ein Wanderungssaldo zwischen 0 (Einwanderung = Auswanderung) und 20‘000 Personen pro Jahr definiert.
- In der 2005er-Prognose lag die Erwartung zwischen 0 und 30‘000 Personen.
- Unter dem Eindruck der ersten Effekte der Personenfreizügigkeit erhöhte die 2010er-Prognose die Bandbreite auf ein jährliche Nettozuwanderung (ab 2020) zwischen 0 und 45‘000 Personen (mittleres Szenario: 22‘500).
- Nach der anhaltend hohen Nettozuwanderung der letzten Jahre (65‘000 bis 90‘000 Personen) definiert nun die 2015er-Prognose für 2020 eine Bandbreite von 40‘000 bis 80‘000 und für 2045 eine von 20‘000 bis 40‘000 Personen.
Diese enge Anbindung an die jüngsten Entwicklungen erfordert laufend Korrekturen, während die geringe Bandbreite eine Vorhersagbarkeit suggeriert, die schlicht nicht gegeben ist. Seit 1960 lag der geringste Wanderungssaldo bei -60‘000 Personen (d.h. die Auswanderung übertraf die Einwanderung um 60‘000 Personen) und der höchste bei 100‘000. Für das Jahr 2045 kann also ehrlicherweise nicht viel mehr vorausgesagt werden, als dass sich die Migration mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo innerhalb dieses Fensters bewegen wird. Zulässig ist allenfalls noch eine Verkleinerung der Bandbreite auf -20‘000 bis 80‘000, denn eine deutliche Nettoauswanderung ist für die Schweiz auch in einigen Jahrzehnten wirklich kaum vorstellbar und dass eine anhaltende jährliche Zuwanderung von 100‘000 Personen politisch nicht akzeptiert wird, haben die letzten Jahre gezeigt. Weitere Präzisierungen sind hingegen schlicht nicht möglich. Ob die Schweiz im Jahr 2050 also 8 oder 11 Millionen Einwohner zählen wird: Wir wissen es schlicht nicht.