Zu Beginn der 1990er Jahre warnten Ökonomen und Wirtschaftsführer vor der Wachstumsschwäche der Schweiz, sofern nicht Reformen in Richtung mehr Wettbewerb und Privatinitiative unternommen würden. Sie sollten recht bekommen. Das letzte Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends erwies sich als eine Periode der Stagnation. Das änderte sich nach der Jahrtausendwende schlagartig. Dank den von den Warnern geforderten und von der Politik zu einem rechten Teil umgesetzten marktwirtschaftlichen Reformen, aber auch dank der Personenfreizügigkeit gegenüber der EU, wuchs die Schweiz überdurchschnittlich – die Debatte um fehlendes Wachstum der neunziger Jahre war vergessen. Nun ist sie im Umfeld der Abstimmung über die Masseneinwanderung neu aufgeflammt, unter anderem mit der Behauptung, die Schweiz sei wohl gewachsen, aber nur in die Breite. Pro Kopf stagniere das Bruttoinlandprodukt (BIP) dagegen mehr oder weniger.
Ein Schweizer Unikum
Abgesehen davon, dass mit einer solchen Behauptung noch nichts darüber gesagt ist, wie sich das BIP pro Kopf bei geringerer Zuwanderung entwickelt hätte, stellt sich auch die Frage, ob das BIP – bzw. das BIP pro Kopf – überhaupt geeignet ist, die Entwicklung des Wohlstands abzubilden. Aus praktischen Gründen gibt es zwar schlicht keine besseren Alternativen, auch wenn man um die Schwächen dieses Messkonzepts weiss, das etwa Wirtschaftsleistungen, die nicht monetär abgegolten werden (wie familiäre Hausarbeit), weitgehend unberücksichtigt lässt oder die Nachhaltigkeit vernachlässigt.
Vor allem kann das BIP das Wohlbefinden der Menschen nicht erfassen, weswegen es alle möglichen Versuche gibt, einen Massstab für das aggregierte Glück der Menschen zu konstruieren, ein «Brutto-Glücksprodukt», wenn man so will – bisher erwartungsgemäss und glücklicherweise ohne überzeugenden Erfolg. Solche Indikatoren entwickeln nämlich immer eine normative Wirkung: Was als Glück definiert wird, wird dann schnell zum allgemeingültigen politischen Ziel erhoben, obwohl die Vorstellungen von Glück sehr unterschiedlich sind.
Mit der Grafik des Monats soll auf eine andere, weniger fundamentale, für die wirtschaftspolitische Debatte gleichwohl wichtige Schwäche des BIP aufmerksam gemacht werden. Thematisiert wurde sie schon vor Jahren vom Genfer Ökonomen Ulrich Kohli sowie neuerdings von der KOF/ETH (Michael Siegenthaler, Jan-Egbert Sturm): Das BIP unterschätzt im schweizerischen Kontext den Wohlstand und dessen Wachstum deutlich, zumal für die letzten zehn Jahre. In diesem Ausmass ist das ein Unikum; es gibt Länder, in denen der Unterschied fast nicht relevant ist.
Verdoppeltes Wachstum
Will man das verstehen, müssen einige methodische Aspekte betrachtet werden. Das BIP der Schweiz wird traditionellerweise produktionsseitig errechnet und nicht, was auch möglich wäre, von der Verwendungs- oder der Einkommensseite her. Dabei wird die Entwicklung der Kaufkraft der Bevölkerung nur unzureichend abgebildet. Wenn sich nämlich die Terms of Trade einer kleinen, offenen Volkswirtschaft wie der Schweiz, die 52% des BIP exportiert und fast so viel importiert, verbessern, also mit der gleichen Exportmenge mehr importiert werden kann, macht das die Menschen dieses Landes wohlhabender. Dies gilt, selbst wenn das BIP und die Exportmenge unverändert bleiben. Das berücksichtigt das sogenannte Command-BIP, auch Bruttoinlandeinkommen oder ausgabenseitiges BIP genannt. Pro Kopf ist es, wie die Grafik zeigt, seit 1980 um 66% gestiegen, also fast doppelt so stark wie das offiziell ausgewiesene, reale BIP pro Kopf, das lediglich um 34% gestiegen ist.
Besonders eklatant ist der Unterschied der beiden Messgrössen ab dem Jahr 2002. Hier wuchs das reale Command-BIP pro Kopf durchschnittlich jährlich um 2%, das heisst allein aufgrund der Verbesserung der Terms of Trade um 1,1 Prozentpunkte mehr pro Jahr als das reale BIP pro Kopf. Und während das BIP pro Kopf in der Wirtschaftskrise einbrach und nun erst wieder knapp das Vorkrisenniveau erreicht hat, konnte sich das Command-BIP pro Kopf 2008 und 2009 halten, so dass es nach dem leichten Anstieg der letzten Jahre nun deutlich über dem Wert von 2007 liegt.
Versteckte Qualität
Das Auseinanderklaffen der beiden Kurven unterstreicht die ungewöhnliche Preissetzungsfähigkeit der Schweizer Exporteure. Spezialisierung, Qualitätsorientierung und Ausrichtung auf Nischenprodukte haben dazu geführt, dass sie während Jahrzehnten von Jahr zu Jahr immer noch höherwertige Produkte und Dienstleistungen anbieten und die laufende Höherbewertung des Schweizerfrankens zu einem beträchtlichen Teil an die Kunden weitergeben konnten. Die Preiselastizität schweizerischer Exportprodukte ist deutlich geringer als die der Exportprodukte der meisten anderen Länder.
Vor allem aber zeigt das Zurückbleiben des realen BIP pro Kopf hinter dem Command-BIP pro Kopf, dass das Wachstum der Wertschöpfung seit langem und systematisch unterschätzt worden ist. Wir sind also reicher, als wir glauben. Gleiches gilt für das Produktivitätswachstum. Auch es wird, wenn man sich auf das BIP stützt, systematisch unterschätzt, ganz abgesehen davon, dass die Preissteigerungen der Schweizer Exporte möglicherweise substanzielle Qualitätsgewinne bei gleichzeitiger Verbilligung der Produktion durch Produktivitätsgewinne reflektieren. Das würde erklären, warum die Schweizer Exporte durch den teuren Franken in letzter Zeit nicht mehr gebeutelt wurden.
Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 27.9.2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».