Der Vergleich offenbart, was rot-grüne Kreise Mobilitätswahn nennen: 1960 haben in der Schweiz 5,4 Millionen Menschen gelebt, heute sind es 8 Millionen – eineinhalbmal so viel. Weit stärker gewachsen ist in derselben Zeitspanne der Strassenverkehr, nämlich um mehr als den Faktor 5. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht, wie der Bund in seinen «Perspektiven des schweizerischen Personenverkehrs bis 2030» aufzeigt. Die Personenverkehrsleistungen werden weiter steigen. Dabei wird der öffentliche Verkehr (ÖV) zwar überdurchschnittlich wachsen, der motorisierte Individualverkehr (MIV) seine dominante Stellung aber behalten.
Ohne Gegenmassnahmen drohen zumindest Teile der Schweiz im Verkehrschaos zu versinken, was nicht nur die Lebensqualität und die Umwelt weiter belasten würde, sondern auch die Finanzen. Schon heute kommen Staus auf der Strasse die Schweizer Volkswirtschaft mit circa 1,2 Milliarden Franken pro Jahr teuer zu stehen. Die Tendenz ist steigend. Allein im Kanton Zürich werden bis 2025 die Kosten von heute 140 auf 300 Millionen Franken zunehmen, wie eine ZKB-Studie schätzt.
Vollgepferchte Züge, kilometerlange Blechkolonnen: Auf diese Herausforderungen reagiert die Politik reflexartig mit dem immer gleichen Rezept – dem Ausbau der Infrastruktur. Politische Auseinandersetzungen entzünden sich bloss noch an der Frage, in welchen Verkehrsträger mehr Geld fliessen soll.
Kosten als unterschätzte Gefahr
Dieses Ausbaudogma wird nun infrage gestellt – von Verkehrsexperten. Klaus Zweibrücken von der Hochschule für Technik Rapperswil warnt vor einem finanziellen Abenteuer, auf das sich die Schweiz einlasse: «Ich habe Bedenken, dass wir das Rad überdrehen.» Heute schon flössen 4,5 Milliarden Franken pro Jahr in neue Verkehrsinfrastrukturen. Die jährlichen Unterhaltskosten schlagen mit 3 Milliarden zu Buche und steigen schneller als die Investitionskosten, wie Zweibrücken sagt. Dies sei eine unterschätzte Gefahr. «Wer soll das am Ende alles zahlen?» Eine nachhaltige Finanzpolitik sehe anders aus.
Andere Verkehrsexperten teilen Zweibrückens Sorge. Patrick Ruggli vom Planungs- und Beratungsunternehmen Ernst Basler + Partner fordert ein komplettes Umdenken: «Die Nachfrage nach neuen Strassen und Schienen ist nicht gottgegeben.» Es werde so viel gefahren, weil Mobilität viel zu billig sei. Heute zahlen die Konsumenten den Preis der Mobilität nur zum Teil – über Benzin, Vignetten, Verkehrssteuern, Bahnbillette, Halbtax- oder Generalabonnemente. Der Rest wird staatlich mit Milliardenbeträgen subventioniert. «Der Verkehr muss seine Kosten selber tragen», sagt Ruggli und plädiert daher wie andere Fachleute für einen Systemwechsel. Das Rezept heisst Mobility Pricing: In diesem System, das auch die wirtschaftsnahe Denkfabrik Avenir Suisse begrüsst, berappen die Nutzer die vollen Kosten oder zumindest einen grösseren Anteil davon als bisher. Je nach Strecke und Zeit kostet die Fahrt mehr oder weniger.
Mobility Pricing nur Worthülse
Zwar hat der Bundesrat einen Bericht zu diesem Instrument bis 2015 in Aussicht gestellt – mehr aber nicht. Verkehrsexperten werten das schleppende Tempo als Ausdruck eines grundsätzlichen Abwehrreflexes. Als Idee geistert Mobility Pricing seit bald einem Jahrzehnt durch den Politdiskurs. Bereits 2005 führte das Bundesamt für Strassen eine Untersuchung dazu durch. 2010 schob der Bundesrat einen umfangreichen Bericht nach. «Die Fakten sind längst bekannt», sagt ETH-Professor Anton Gunzinger, der die Firma Supercomputing Systems (SCS) führt. Die Mobilität macht inzwischen 40 Prozent des Energieverbrauchs in der Schweiz aus. Bei den anderen Energiefressern – dem Wohnen und der Elektrizität – sieht Gunzinger Fortschritte. Die Schweizer seien auf gutem Weg, die Wärmeenergie um den Faktor zehn zu reduzieren, etwa dank gut isolierter Häuser und Wärmepumpen. Ebenso werde der Ausbau der erneuerbaren Energien vorangetrieben. «In der Mobilität tut sich jedoch nichts», sagt Gunzinger. Von der Politik erwartet er eine Roadmap, die einen ehrgeizigen Fahrplan für den Wechsel aufs Mobility Pricing festlegt. Wie schwer sich die Politik mit grossen Würfen tut, zeigt sich beispielhaft an der Kontroverse um den Pendlerabzug. Wer weite Strecken zur Arbeit zurücklegen muss, kann dafür künftig nur noch maximal 3000 Franken von den Steuern abziehen. Mit dieser Beschränkung wollen Bundesrat und Parlament zusätzliches Geld in die Finanzierung der Bahn stecken und einen Anreiz dafür schaffen, auf das Pendeln mit dem Auto zu verzichten. Verkehrsministerin Doris Leuthard (CVP) wollte den Betrag ursprünglich auf 800 Franken senken, krebste aber nach Protesten auf breiter Front zurück. Dies sei typisch, sagt Experte Ruggli: «Kaum wird am System geschräubelt, folgt der Aufschrei.» Den Verkehrsexperten wäre selbst Leuthards Variante viel zu wenig weit gegangen: «Wir müssen das System umkehren, also jene belohnen, welche die Ressourcen schonen», sagt Gunzinger.
In der zögerlichen Haltung der Schweizer Politiker sehen die Experten ein Risiko: «Wir müssen jetzt handeln, um nicht mehr von den Ölstaaten abhängig zu sein», sagt Gunzinger. Schon heute bezahle die Schweiz für den Import von nicht erneuerbarer Energie jährlich 15 Milliarden Franken ins Ausland. Davon profitiere die Schweizer Wirtschaft kaum. Weil die Ressourcen zunehmend knapp würden, steige der Benzinpreis beim Import bis 2050 im Minimum auf 4 Franken, sagt Gunzinger. Es braucht seiner Ansicht nach deshalb nicht nur eine zügige Umstellung auf eine Verkehrsflotte ohne fossile Antriebsstoffe, sondern auch eine deutliche Reduktion der Fahrkilometer.
Erreichen will er dies mit seinem sogenannten Plan B: Güter wie Wasser, Luft oder Ruhe gehören darin allen. Für sie soll ein fairer Preis ausgehandelt werden. Wer zu viel von den Ressourcen nutzt, zahlt. Wer sie schont, profitiert. «Die Automobilität ist der grösste Landverbraucher der Schweiz», sagt Gunzinger. Die Fläche aller Gebäude in der Schweiz betrage rund 400 Quadratkilometer. Alle Strassen und ihre angrenzenden, nicht nutzbaren Flächen sowie sämtliche Parkplätze beanspruchten dreimal mehr Platz.
Parkplätze rigoros reduzieren
Verkehrsplaner hegen weitere Pläne: Gunzinger schlägt vor, die Motorfahrzeugsteuern abzuschaffen und sie auf den Benzinpreis abzuwälzen. Zudem will er die Unfallkosten sowie die Kosten für die Kantonalstrassen (10 Milliarden Franken pro Jahr) und Gemeindestrassen (2,5 Milliarden) in den Benzinpreis integrieren. Gleichzeitig sollen die Kantons- und Gemeindesteuern sinken. Dies wäre eine Spielart einer ökologischen Steuerreform, wie sie der Bundesrat in seiner Energiestrategie angedacht hat; eingeführt wird die Neuerung allerdings nicht vor 2020 – wenn überhaupt. Damit jenes Drittel der Bevölkerung, das keine Steuern zahlt, nicht zum Verlierer wird, fordert Gunzinger zusätzlich eine Gemeingutabgeltung für Raum, Lärm und CO2, die an alle Menschen gleichmässig zurückerstattet wird. Mit diesem Systemwechsel entstünde laut Gunzinger mehr Kostenwahrheit. Ein Liter Benzin würde rund 10 Franken kosten – über fünfmal mehr als heute. Auch das Bahnfahren würde teurer, um den Faktor 2, wie Gunzinger sagt. Das Erstklass-GA würde also 10 000 Franken kosten.
Auch Fachmann Zweibrücken hat Lösungsvorschläge zur Hand. Dass die Politik den ÖV und MIV gleichermassen fördert, stört ihn: «Niemand getraut sich zu sagen, dass man dem Auto etwas wegnehmen muss.» Das richtige Signal laute: «Hier fördern, dort bremsen.» Zweibrücken schlägt vor, Parkplätze rigoros zu reduzieren – in Unternehmen, Einkaufszentren, Wohnsiedlungen. Betriebe sollen mit Anreizsystemen ihre Belegschaft zum Umsteigen bewegen, etwa indem sie sich an den Billettkosten beteiligen. Autostrecken sind meist kurz Den Systemwechsel hält der Experte für möglich, weil die Autofahrer überwiegend kurze Strecken zurücklegen. Ein Drittel ihrer Fahrleistungen erfolge auf einer Strecke bis zu einem Kilometer, ein weiteres Drittel bis zu fünf Kilometern. «Solche Entfernungen lassen sich problemlos zu Fuss, per Velo oder mit dem ÖV zurücklegen.»
Dass die Politik auf die Experten hören wird, bezweifelt Gunzinger: «Sie haben Angst, abgewählt zu werden.» Dabei sei die Notwendigkeit umwälzender Veränderungen offensichtlich. «Unser Verkehrsverhalten ist masslos. Nachfolgende Generationen werden uns deshalb dereinst als dekadente Schweine bezeichnen.»
Dieser Artikel erschien im «Tages-Anzeiger» vom 30. September 2013. Mit freundlicher Genehmigung des Tages-Anzeigers.