Im Süden Europas werden wir gerade Zeugen des dramatischen Scheiterns von Bildungssystemen. Eine Politik, die der überwiegenden Mehrheit von Jugendlichen ein (oft mittelmässiges) Universitätsstudium ermöglichen will, entspricht zwar einem egalitären Bildungsideal – sie ist aber offensichtlich nicht in der Lage, den jungen Menschen eine Arbeitsmarkt- und damit eine Lebensperspektive zu bieten. Darum erstaunt es nicht, dass Spanien sich neuerdings für das «Modell Deutschland» interessiert, das für die institutionalisierte duale Berufsbildung steht. Dieses Modell hat aber nicht unser nördlicher Nachbar perfektioniert, sondern die Schweiz. In keinem anderen Land wird die nachobligatorische Bildung so stark von der Berufsbildung geprägt. Ohne Zweifel ist die Berufslehre ein tragender Pfeiler des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs der Schweiz. Dieser spurt die Stellung der Mittelschulen vor: Sie sollen – so der überwiegende Konsens – einer möglichst eng definierten intellektuellen Elite vorbehalten sein. Wer die Selektionshürden überspringt, dem stehen dafür (fast) alle universitären Studienrichtungen offen. Ein so weit gehendes Privileg kennt kaum ein anderes Land.
Höhere Maturitätsquote ist allein den Frauen zu verdanken
Während unser Bildungssystem im Ausland als vorbildlich und nachahmenswert gilt, scheinen sich im Inland die Probleme zu mehren. Und es fällt auf, dass die Mehrzahl der «Störungsmeldungen» die Mittelschulen – und die daran anschliessenden Universitäten – betrifft. Die grösste Sorge gilt zweifelsohne der Maturitätsquote. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der gymnasiale Weg in letzter Zeit vielerorts an Anziehungskraft gewonnen hat, vor allem in urbanen Mittelstandsmilieus. In den meisten Bildungsdebatten gilt es darum als ausgemacht, dass sich die Quote in stetigem Steigflug befindet. Das nährt Befürchtungen, dass das Bildungssystem in jenen Strudel der Akademisierung gerät, der anderen Ländern Probleme bereitet. Denn in Zeiten abnehmender Jugendkohorten ist es wichtig, dass auch der Berufsbildung motivierte und begabte Jugendliche zugeführt werden. Gerade die guten Ausbildungsbetriebe reagieren empfindlich, wenn gute Kandidaten zur «Mangelware» werden: Sie schränken womöglich ihr Lehrstellenangebot ein. Dadurch könnte ein Teufelskreis entstehen, denn der Mangel an anspruchsvollen Lehrstellen würde seinerseits die Attraktivität der Gymnasien erhöhen.
Der Blick in die Statistik zeigt aber, dass solche Szenarien nur bedingt die Realität abbilden. Die grosse Expansion des Gymnasiums fand in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre statt, als die Maturitätsquote – auch in der Folge der Aufhebung der Lehrerseminare – von 13% auf 18% anwuchs. In den 2000er-Jahren ist der Anteil nur noch sanft von 19% auf heute knapp 20% gestiegen. Und vor allem eines sticht ins Auge: Die Ausdehnung der Gymnasien in den letzten 15 Jahren ist ausschliesslich den Frauen zu verdanken. Die Quote der Männer lag 2012 mit 16,5% nicht höher als 1995 und sogar leicht tiefer als 1997. In einigen Kantonen ist sie sogar spürbar gesunken. In Zürich lag sie 2012 bei 15,2%, während sie 1998 noch über 18% betrug.
Gymnasium gefährdet Berufsbildung nicht
Diese Zahlen belegen, dass der oft zitierte «Boom» der Gymnasien nicht der Grund sein kann für den fehlenden Nachwuchs in den anspruchsvollen Industrielehren. Denn trotz grossen Anstrengungen zur Reduktion von Geschlechtsstereotypen in der Berufswahl sind Polymechanikerinnen die grosse Ausnahme geblieben. Der zu schmale Nachwuchs in den technisch-industriellen Berufsfeldern hat also andere Gründe. Leider wird diese Diskussion oft undifferenziert geführt. So lautet der Tenor in vielen Kommentaren, dass die Flut von Maturanden einzudämmen sei, um das Niveau der Gymnasien sicherzustellen und die Berufslehre zu stützen. Auch der EVD-Vorsteher wurde vor Kurzem mit der Aussage zitiert, er hätte lieber etwas weniger, dafür aber bessere Maturanden.
Solche Zuspitzungen erschweren eine differenzierte und zielgerichtete Diskussion über notwendige Anpassungen der Bildungspolitik. Die enge Verbindung mit Genderfragen und Gleichstellung erschwert die Diskussion zusätzlich. Die oft beklagte «Verweiblichung» der Volksschule ist eine Realität, ob sie tatsächlich die Bildungskarrieren der Knaben behindert, ist wissenschaftlich nicht belegt. Der zunehmende Frauenanteil an den Mittelschulen ist viel eher eine erfreuliche Folge der gestiegenen Ambitionen und des höheren Selbstbewusstseins junger Frauen. Die Frage, wie das Gymnasium für junge Männer attraktiver gemacht werden könnte, darf aber nicht mit Hinweis auf die frühere Benachteiligung der Frauen tabuisiert werden.
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