Die Diskussion über die Abschaffung der Wehrpflicht verläuft bisher bemerkenswert flau. Vielleicht liegt es daran, dass grundlegende Probleme der schweizerischen Milizmentalität nicht thematisiert werden. Befürworter wie Gegner der Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) beschwören zwar den Milizgedanken. Aber sie interpretieren diesen nur in ihrem Sinne: Während die einen das Schlagwort der «Freiwilligenmiliz» bemühen, setzen die anderen das Ende der Wehrpflicht mit dem «Ende des Milizsystems» gleich. Die Probleme und vor allem die Zukunft des Milizsystems werden nicht angesprochen.
Der Begriff «Milizsystem» existiert bezeichnenderweise nur in der Schweiz. Dieses beruht auf der republikanischen Vorstellung, dass ein jeder Bürger mit den entsprechenden Fähigkeiten neben- oder ehrenamtlich öffentliche Ämter und Aufgaben übernehmen sollte. Es ist geprägt vom Idealbild des «uomo universale» aus der Renaissance. Jeder Laie ist befähigt, mitzutun. Der schweizerische Milizstaat setzt freiwilliges Engagement voraus; die Bürger dürfen sich als Kollektiv nicht auf eine Zuschauerrolle zurückziehen. Dieses republikanische Modell, wie es Gottfried Keller vorschwebte und vom Bürger wie selbstverständlich freudige Beteiligung erwartete, ist in der Krise. Das Engagement im Milizsystem steht in Konkurrenz zur Freizeitgesellschaft mit ihrem vielfältigen Angebot. Jüngere Studien zur Freiwilligenarbeit zeichnen ein eher düsteres Bild. Den Parteien geht die Basis verloren, sie haben immer grössere Mühe, geeignete Kandidaten zu finden. Individualisierung und globalisierte Arbeitswelt haben zur Folge, dass die Bereitschaft zu Milizarbeit sinkt. Kleinere Gemeinden fühlen sich durch die zunehmende Verrechtlichung und mediale Aufmerksamkeit schnell einmal überfordert. Weil Arbeits- und Privatwelt heute stark ineinandergreifen, wollen viele Bürger nicht auch noch der Miliz- und Freiwilligenarbeit Platz in ihrem Leben einräumen. Der Aufwand für ein längerfristiges Engagement in Vereinen erscheint ihnen angesichts sinkender Wertschätzung zu gross.
Ist das schweizerische Milizsystem zukunftstauglich oder verkommt es zu einem Mythos? Obwohl es offenkundig bröckelt, wird es gemeinhin idealisiert. Seine schwindende Bedeutung könnte das Schweizer Selbstverständnis empfindlich treffen, gilt das Milizsystem neben der direkten Demokratie und dem Föderalismus doch als zentraler Pfeiler des Staats.
Den Kopf in den Sand zu stecken, ist selten eine gute Strategie. Wenn sich die «alte Schweiz» von Gottfried Keller überlebt hat, braucht es Zukunftsbilder für eine «neue Schweiz». Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
- Eine individualistisch-liberale, expertenorientierte Schweiz: Denkt man die gesellschaftlichen Trends weiter, geht es Richtung Professionalisierung; es erfolgt eine Angleichung an unsere Nachbarländer. Die Schweiz würde zum Normalfall, die Laienrepublik wäre Geschichte. Es entstünde eine Schweiz, in welcher der Staat seinen Bürgern ausser den Steuern fast keine moralische und rechtliche Pflichten mehr auferlegt. Die Staatsbürger würden zu Staatskunden.
- Eine genossenschaftlich-liberale, republikanische Schweiz: Der Milizgedanke wird neu definiert, indem man den Republikanismus modernisiert, verbreitert und akzeptabler macht. Dem Gleichheitsprinzip aus der Aufklärung wird Nachdruck verschafft. Die Schweiz versucht, ihren spezifischen Bürgerstaat zukunftstauglich zu machen und so zu erhalten.
Am 22. September haben wir nur die Wahl zwischen dem Status quo und einer Initiative, die in Richtung einer individualistisch-liberalen Schweiz geht. Eine breite Debatte, wie eine republikanisch-genossenschaftliche Schweiz aussehen könnte, fehlt. Darum hat Avenir Suisse die Idee eines allgemeinen Bürgerdienstes für Männer, Frauen und niedergelassene Ausländer lanciert, der wahlweise im Militär oder in zivilen Tätigkeiten absolviert würde. Wie diese Bürgerbeteiligung konkret ausgestaltet werden könnte, ist zu diskutieren. Auch nach dem 22. September.
Dieser Artikel erschien am 28. August 2013 im «Tagesanzeiger».